Proteste in Beirut:Libanon erstickt im Müll

  • Eine Müllkrise beschert Libanon die größten Ausschreitungen seit der sogenannten Zedernrevolution 2005.
  • Seit Juli türmen sich Müllberge in den Straßen auf - die Regierung bekommt den Abtransport nicht mehr organisiert.
  • Es ist das erste Mal, dass Demonstrationen nicht von konfessionellen Interessen angetrieben sind, sondern sich gegen die politische Klasse als solche richten.

Von Ronen Steinke

Für Politdramen wie dieses bietet Beirut eine prächtige Kulisse. Auch ein Vierteljahrhundert nach Ende des Bürgerkriegs zwischen Muslimen und Christen stehen zerschossene Ruinen neben neuen, glitzernden Einkaufszentren, Moscheen sind nach Politikern benannt, Wolkenkratzer nach ausländischen Spendern. Die Händel der politischen Clans, die in Libanons Hauptstadt maßgeblich sind, hinterlassen kuriose Spuren.

Das stärkste Sinnbild für ihre Ränkespiele aber sind die Müllberge, die sich seit Juli in den Straßen auftürmen - seitdem die Regierung ihren Abtransport nicht mehr organisiert bekommt. Dies ist "der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt" - so meinen nicht nur die Demonstranten, die am Wochenende zu Tausenden gegen die Regierung auf die Straße gingen. So formuliert es der Premierminister persönlich.

Eine frische Gelegenheit für die Clans, Geld zu verdienen

Müll ist in Libanon ein hochprofitables Geschäft. Im Juli musste die größte Müllkippe des Landes wegen Überfüllung schließen. Gleichzeitig lief der Vertrag der Regierung mit der privaten Müllsammelfirma aus. Eine frische Gelegenheit für die Clans, Geld zu verdienen. Seither müsste die Regierung eigentlich neue Lizenzen für Mülltransport und Deponien vergeben. Aber in Libanon ist dies ein Fall für den runden Tisch.

Klientelpolitiker aller Konfessionen sind vereint in einer Allparteienregierung, und "jeder von ihnen möchte sich nun einen Zuschlag für seine Klientel sichern und sich das gut entgelten lassen", beobachtet die Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, Bente Scheller. Einige Gemeinden sammeln seither zwar den Abfall ein, laden ihn aber auf illegalen Müllplätzen ab. Etwa am Strand. Die Demonstranten gegen die Regierung protestieren unter dem Slogan "Ihr stinkt".

Bei den Protesten sind am Sonntagabend nach Behördenangaben 400 Demonstranten verletzt worden, 59 von ihnen wurden ins Krankenhaus gebracht. Es sind die größten Ausschreitungen seit 2005, der sogenannten Zedernrevolution. Damals gingen vor allem Sunniten auf die Straße, aus Wut über die Einmischung des schiitischen Iran. Diesmal liegen die Dinge anders.

Es ist das erste Mal, dass Demonstrationen nicht von konfessionellen Interessen angetrieben sind, sondern sich gegen die politische Klasse als solche richten, gegen sunnitische, schiitische und christliche Politbosse zugleich. Manche Beobachter sprechen bereits hoffnungsvoll von einer erwachenden Zivilgesellschaft.

Seitdem das Amt des libanesischen Präsidenten vakant ist, hat sich die Lage im Land noch verschärft. Das Amt steht nach den Regeln des libanesischen Proporzes eigentlich den Christen zu. Doch deren Kandidat wird von Sunniten im Parlament blockiert - seit inzwischen 450 Tagen. Die Folge: Nach der Verfassung können Beschlüsse der Regierung nur noch einstimmig gefasst werden, es braucht den Konsens aller Parteien. Faktisch ist die Regierung damit weitgehend paralysiert. Das Parlament in Libanon ist gespalten zwischen einem von den USA und Saudi-Arabien unterstützten Lager um den sunnitischen Ex-Premier Saad Hariri und einem von der schiitischen Hisbollah-Miliz angeführten Block, der von Iran unterstützt wird.

Angesichts der Müllkrise hat Premierminister Tammam Salam, ein Sunnit, die Sicherheitskräfte ermahnt, keine übermäßige Gewalt gegen Demonstranten anzuwenden. Vertreter der Parteien berief er zu einer Krisensitzung ein, um das Pokern der Klientelpolitiker über einen Müll-Deal zu beschleunigen. Er drohte sogar mit Rücktritt - was indes eine interessante Konstellation hervorrufen würde. Ein neuer Premier müsste der Verfassung zufolge vom Präsidenten ernannt werden. Wenn es denn einen gäbe.

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