Willkürjustiz in Russland:Mit Putins Leben endet auch sein Regime

Vladimir Putin, Abdel Fattah el-Sissi

Wladimir Putin spricht nach einem Treffen mit dem ägyptischen Präsidenten Abdel Fatah al-Sisi am Mittwoch.

(Foto: AP)

20 Jahre Lagerhaft - eine brutale Strafe für einen Mann, der nur laut gesagt hat, dass er die Krim-Annexion ablehnt. Doch in dem Strafmaß für Oleg Senzow spiegelt sich bereits das Ende des Putin-Systems.

Kommentar von Julian Hans

Als der Richter das Urteil verlesen hatte, stimmten die Angeklagten die ukrainische Hymne an: "Noch sind Ruhm und Freiheit der Ukraine nicht gestorben. Und auch wir, Brüder, werden Herren im eigenen Land sein." Man kann das als patriotisch deuten, als pathetisch. Am Ende aber ist das Singen vielleicht das Letzte, was einem Menschen bleibt, der vom Geheimdienst verschleppt wurde, der in Untersuchungshaft geschlagen und dann von einem Gericht unschuldig verurteilt wurde, den Jahrzehnte im Lager erwarten, um der Welt, vor allem aber sich selbst zu zeigen: Die Gedanken sind frei.

So viele politischen Prozesse haben in der Ära Putin schon die Welt beschäftigt, dass sich die Begriffe abgenutzt haben: Willkürjustiz, Schauprozess, Rückfall in Zeiten der Sowjetunion. Das alles traf in unterschiedlichem Maße zu auf die Zerschlagung von Yukos und die Inhaftierung von Michail Chodorkowskij, auf Pussy Riot, auf die Bolotnaja-Prozesse gegen Teilnehmer an einer Demonstration gegen die dritte Amtseinführung von Wladimir Putin.

Und auch in diesem Fall muss man das Verfahren so nennen. 20 Jahre soll der Regisseur Oleg Senzow ins Straflager, zehn Jahre der Mitangeklagte Alexander Koltschenko. Das Gericht stützte den Schuldspruch allein auf erpresste Zeugenaussagen, Beweise gab es keine. Senzow und Koltschenko sollen auf der Krim eine terroristische Vereinigung gebildet, die Büros zweier prorussischer Organisationen angezündet und einen Anschlag auf die Lenin-Statue in Simferopol geplant haben.

Selbst wenn sie beteiligt gewesen wären: Bei den Anschlägen wurde niemand verletzt, es entstand nur geringer Sachschaden. Doch das Ziel dieses Prozesses war ja kein strafrechtliches. Senzow und Koltschenko waren nicht einverstanden mit der Annexion der Krim durch Russland und haben das laut gesagt. Das Verfahren soll allen eine Warnung sein, die ähnlich denken: Dazu ist unser Geheimdienst fähig, unsere Führung gewillt und unsere Justiz bereit, selbst wenn der Westen protestiert und noch so viele namhafte Regisseure - von Andrzej Wajda über Wim Wenders bis zum Putin-Freund Nikita Michalkow - um Gnade bitten.

Im Strafmaß spiegelt sich bereits das Ende des Putin-Systems

Das Strafmaß ist ungeheuerlich, es rückt die Ereignisse aber zugleich in eine größere Perspektive. Denn eins ist sicher: Zwanzig Jahre wird Wladimir Putin nicht mehr an der Macht sein. Zwanzig Jahre können eine ganze Epoche sein in der schnelllebigen jüngeren Geschichte Russlands. Noch vor zwei Jahrzehnten demontierte der Staat selbst Lenin-Statuen. Heute verfolgt er das als "Terrorismus".

Anders als bei den Urteilen gegen Chodorkowskij, die Pussy-Punkerinnen oder die Bolotnaja-Demonstranten ist klar, dass die tatsächliche Dauer dieser Haftstrafe weniger vom Willen Putins und seiner Justiz abhängt, als vom Bestand seines Regimes. Denn während das Sowjetsystem auf die Ewigkeit ausgelegt war und nur die Köpfe im Politbüro wechselten, ist das Putin-System auf eine einzige Person an der Spitze zugeschnitten. Und wenn es nicht vorher fällt, so wird mit dem Leben dieser Person auch das Regime enden.

Ob der Bruch morgen kommt, in zehn Jahren oder später: Russland wird dann vor einem gewaltigen Trümmerhaufen stehen, politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich. Die Wunden bei Ukrainern und Russen werden auch in zwanzig Jahren noch nicht verheilt sein. Dazu wird die Bürde kommen, das Unrecht aus Prozessen wie diesem aufzuarbeiten; und ein langer Weg, um die Menschen von der Lüge zu entgiften, die ihnen das Fernsehen täglich in großen Dosen verabreicht.

Sein letztes Wort als Angeklagter hat Oleg Senzow an den aufgeklärten Teil der russischen Bevölkerung gerichtet: Er wünsche ihnen, dass sie ihre Angst verlieren.

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