Bayerns Museen:Abwurfstangen in Serie

Das Rehmuseum in Berchtesgaden begeistert Jäger und Wildforscher

Von Barbara Doll, Berchtesgaden

"Völlig seniler Bock", "totaler Ramsschädel": Objektbeschriftungen von so wunderbar unfreiwilliger Komik gibt es wohl in keinem anderen Museum. Dabei dürfte die Diagnose für das entsprechende Tier keineswegs amüsant gewesen sein. Der senile Rehbock etwa kämpfte - gut sichtbar - mit Zahnausfall und Oberkiefervereiterung.

Sein Schädel ist nur einer von 1290 Bockschädeln im Rehmuseum Berchtesgaden. Dazu kommen 590 Geißen- und Kitzschädel und 3425 Abwurfstangen, also die Geweihstangen, die das Wild einmal pro Jahr abwirft und erneuert. All diese Schädel und Stangen hat der Wittelsbacher-Herzog und Wildforscher Albrecht von Bayern (1905 - 1996) in jahrzehntelanger Arbeit zusammengetragen, vermessen und katalogisiert. Gut zwanzig Jahre lagerte die riesige Sammlung im Jagdschloss Grünau bei Neuburg an der Donau. 2005, zum 100. Geburtstag von Herzog Albrecht, zog sie ins Schloss Berchtesgaden um. Herzog Franz von Bayern, derzeitiges Oberhaupt des Hauses Wittelsbach und selbst mehr der Kunst als der Jagd verfallen, wollte das Lebenswerk seines Vaters der Öffentlichkeit zugänglich machen - herausgekommen ist ein Museum nicht nur für Jäger, Wilderer und Förster.

Bayerns Museen: Herzog Albrecht hat Objekte gesammelt und in Serie ausgestellt.

Herzog Albrecht hat Objekte gesammelt und in Serie ausgestellt.

(Foto: Museum/oh)

Herzog Albrecht war ein Urenkel von Prinzregent Luitpold und Sohn des späteren Kronprinzen Rupprecht. Er studierte Forstwissenschaft, doch der Studienabschluss wurde ihm im Dritten Reich verweigert, weil er keiner NS-Organisation beitreten wollte. Mit Frau und Kindern zog er 1939 nach Ungarn, 1944 wurde die Familie von der Gestapo verhaftet und bis Kriegsende in verschiedenen Konzentrationslagern festgehalten. Dort begann Herzog Albrecht sein "Jagdliches Vermächtnis", an dem er bis zu seinem Tod arbeitete. Die jagdliche Hege und Pflege war ihm wichtiger als Trophäen, er wollte wissen, wie das Wild lebt und wie der Mensch es beeinflusst. Unterstützt hat ihn seine Frau Herzogin Jenke, deren Wild- und Naturfotos auch im Rehmuseum zu sehen sind. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten bekam Herzog Albrecht am Ende seines Lebens die Ehrendoktorwürde der Ludwig-Maximilians-Universität München. Guido Burkhardt, Verwaltungsleiter im Schloss Berchtesgaden, hat ihn noch selbst kennengelernt: Ein Mensch ohne Standesdünkel sei der Herzog gewesen, einer, "der genau gewusst hat, was er wollte."

Wissenswertes

Adresse: Schloss Berchtesgaden, Schlossplatz 2, 83471 Berchtesgaden

Öffnungszeiten: Einlass über die Stubn Classic, Schlossplatz 5 (während der Ladenöffnungszeiten), über die Schlosskasse oder nach Absprache, aktuelle Öffnungszeiten: www.schloss-berchtesgaden.de, Telefon: 08652/947 980

Eintritt: Erwachsene 4,00 EUR (ungeführt), Kinder und Jagdhunde frei

Schwerpunkt: Wildwissenschaftliche Sammlung Herzog Albrechts von Bayern

Trägerschaft: Wittelsb. Ausgleichsfonds

Die gut 700 Quadratmeter große Ausstellungsfläche im ehemaligen Kornstadl des Schlosses verbindet den Charme von Industrieloft und ehrwürdigem Gemäuer: weitläufige Hallen, holzvertäfelte Decke, Dachschrägen, alte Ziegel. In der oberen Etage überwältigt die schiere Masse. Unmengen von Schädeln reihen sich in einem verglasten Wandregal aneinander, vom Boden bis zur Decke. In den vom Herzog entworfenen Naturholzvitrinen gegenüber liegt Abwurfstange an Abwurfstange.

Schätze und Schätzchen

Museen in Bayern, SZ-Serie, Teil 12

Was aussieht wie eine Trophäenschau, war die Forschungsgrundlage von Herzog Albrecht. Die Schädel und Abwurfstangen stammen größtenteils aus Weichselboden in der Steiermark, wo er ein mehrere Quadratkilometer großes Revier gepachtet hatte. Dieses ließ er einzäunen und simulierte natürliche Lebensbedingungen für das Rehwild. Es konnte vom Menschen ungestört aufwachsen und äsen. Im Winter wurden Heu und Silage zugefüttert. Und siehe da: In Weichselboden gab es keinerlei Wildverbiss. Für Herzog Albrecht war dies der Beweis, dass das Wild, wenn es Ruhe vor Menschen und ausreichend Nahrung hat, keine Baumkulturen angreift. Das ist ein kaum erreichbares Ideal - und zugleich hoch politisch und emotional, erklärt Guido Burkhart, "denn demnach müssten nicht so viele Tiere geschossen werden, wie die staatliche Abschussquote vorschreibt". Aus den Abwurfstangen erstellte Herzog Albrecht komplette Serien. Sie bilden ein ganzes Bocksleben ab und zeigen, wie das Geweih eines Rehbocks mit den Jahren immer prächtiger wird - und zum Lebensende hin immer kümmerlicher.

Wie der Herzog sein Material untersucht hat, ist in seinem Arbeitszimmer zu sehen. Es wirkt, als habe er den Raum nur kurz verlassen: Am Kleiderständer hängen Jagdrucksack, Hut und Lodenjanker, auf dem Schreibtisch steht eine Dose mit Schrotkugeln. Damit hat er das Gehirnvolumen der Schädel gemessen. Säge, Hammer, Mikroskop, Taschenrechner und Sterilisationsgerät: Herzog Albrecht bearbeitete das Wild höchstpersönlich, vermaß es akribisch und hielt alles in Notizbüchern fest. An den Schädeln konnte er auch ablesen, dass das Geweih für den Hirsch viel wichtiger ist als für das Reh. Denn während der Rehbock in der Brunft nur mit einer Geiß beschäftigt ist, muss der Hirsch ein ganzes Rudel zusammenhalten und "sprechen", drohen, imponieren.

Neben dem Verhalten von Rehen erforschte Herzog Albrecht auch deren Krankheiten und Abnormitäten. In der unteren Etage lässt sich dies in Dutzenden Vitrinen nachvollziehen: Laufbrüche, zertrümmerte Kiefer nach Autounfällen, Löcher im Schädel. Kurze Texte aus den wissenschaftlichen Büchern des Herzogs erklären all dies klar und verständlich - nicht nur die Leiden des senilen Bocks, sondern auch die des "zweijährigen Spießers", der "während des Verfegens eingegangen" ist.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: