Flüchtlingskrise:Eine Woche, die Europa verändern wird

Forensic police officers inspect a parked truck in which up to 50 migrants were found dead on a motorway near Parndorf
(Foto: Heinz-Peter Bader/Reuters)

Grausiger Fund in einem Schleuser-Lkw, brennende Flüchtlingsheime in Deutschland und das Mittelmeer als Massengrab. Auf all das haben Brüssel und Berlin noch keine Antwort.

Von Matthias Drobinski

Eine Woche endet in Europa, in der Hunderte Flüchtlinge starben, draußen auf dem Mittelmeer und in einem Kühllaster, abgestellt an der österreichischen Autobahn A 4. Man konnte in dieser Woche hilflose Politiker und Behördenvertreter sehen, starke Worte und Absichtserklärungen hören. Man konnte verfolgen, wie im sächsischen Heidenau die Gewalt eskalierte und dann Bundeskanzlerin Angela Merkel beschimpft wurde, als sie den Ort besuchte; man konnte aber auch sehen, wie viele Menschen denen helfen wollen, die da kommen.

Es war eine Woche des Entsetzens und des Zorns, der Scham über den Hass und die Gleichgültigkeit - und des Stolzes auf die Zivilcourage vieler Menschen. Es war eine Woche, die ahnen lässt, wie sehr diese Flüchtlingskrise Deutschland und Europa ändern wird.

Die Menschen im Laster hatten noch versucht, sich zu befreien

In der Nacht zum Freitag bargen die österreichischen Behörden 71 Leichen aus dem Laderaum des Kühllasters: Schleuser hatten offenbar die 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder, darunter ein etwa eineinhalbjähriges Mädchen, in den Lkw gepfercht, um sie so über Ungarn und Slowenien nach Österreich zu bringen. Wann genau die Menschen starben, die wohl aus Syrien stammten, war am Freitag noch unklar. Vermutlich sind sie erstickt. Der ORF berichtete, die Menschen hätten noch versucht, sich zu befreien - der Laderaum sei nach außen hin ausgebeult und teilweise aufgeschlitzt. Die Leichen sollen nun in Wien obduziert werden.

Die österreichische Polizei geht davon aus, dass ein bulgarisch-ungarischer Schlepperring die Todesfahrt zu verantworten hat. Der Halter des Lastwagens, ein Bulgare libanesischer Herkunft, die beiden mutmaßlichen Fahrer und ein vierter Mann sitzen in Untersuchungshaft. Die wahren Hintermänner dürften nur schwer zu überführen sein; das Schleusergeschäft ist gut organisiert, nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden dort sieben Milliarden Euro im Jahr umgesetzt - Geld, abgepresst von den Flüchtlingen, die für den Landweg ungefähr 10 000 Euro zahlen.

Wie die Schleuser bekämpft werden sollen, ist unklar

Der grausige Fund an der Autobahn A 4 ist im Grunde furchtbarer Alltag: Am Donnerstag sanken auch zwei Flüchtlingsboote vor Libyens Küste. Mindestens 200 Menschen sind ertrunken. Bereits am Mittwoch hatten Helfer dort ein Boot erreicht, in dessen Laderaum 51 Menschen erstickt waren. Die Schleuser sollen Geld dafür verlangt haben, dass Passagiere an die frische Luft dürfen. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR schätzt, dass sich seit Beginn des Jahres mehr als 300 000 Flüchtlinge übers Mittelmeer auf den Weg nach Europa gemacht haben - und 2500 umkamen.

Wie sollen die Schleuser bekämpft werden? Darüber wird gestritten. Zahlreiche Hilfs- und Flüchtlingsorganisationen fordern, legale Wege nach Europa zu schaffen. "Das Geschäft der Schleuser funktioniert umso besser, je höher die Zäune sind", sagte Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Pro Asyl.

Ein EU-Flüchtlingsgipfel ist nicht geplant - man könne keine Entscheidungen treffen

Anschlaege

Regierungssprecher Steffen Seibert dagegen betonte, dass man vor allem härter gegen die Schlepper vorgehen wolle, sie seien nicht Helfer, sondern gewissenlose Geschäftemacher. Auch das Weiße Haus forderte Europa zu einem schärferen Vorgehen gehen Schleuser auf. Die Nato kündigte an, die EU beim Kampf gegen Schleuser im Mittelmeer unterstützen zu wollen. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hatte gesagt, Gespräche seien in Gang, damit die Marineoperation der EU "bis in die hohe See handeln kann, um kriminelle Netzwerke effizient zu bekämpfen". Derzeit seien insgesamt vier Schiffe, zwei Flugzeuge und drei Hubschrauber im Einsatz. Deutschland ist demnach mit zwei Schiffen und Personal beteiligt. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon forderte eine Antwort der Weltgemeinschaft auf die Flüchtlingskrise. Er sprach auch die Toten im Lkw an: "Der syrische Krieg hat sich an einem Straßenrand im Herzen Europas manifestiert", sagte er. Ende September will er eine Sondersitzung zu dem Thema einberufen. Ein EU-Flüchtlingsgipfel ist aber derzeit nicht geplant, sagte Kanzlerin Merkel. Ein solcher Gipfel müsse auch Entscheidungen treffen können. Und das geht derzeit offenbar nicht - auch Europas Unfähigkeit, das Flüchtlingsproblem gemeinsam anzugehen, gehört zu den Geschichten dieser Woche. Und es gehört zu dieser traurigen Woche, dass die Gewalt gegen Flüchtlinge nicht abreißt, nicht nur in Sachsen. In Salzhemmendorf in Niedersachsen warfen Unbekannte einen Brandsatz in eine Unterkunft - im Nebenraum schliefen eine Frau aus Simbabwe und ihre Kinder; ein "versuchter Mord", wie Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil sagte. Drei Verdächtige wurden festgenommen. Im sächsischen Heidenau, wo am vergangenen Wochenende Neonazis vor einer Flüchtlingsunterkunft zeitweise die Herrschaft über die Straße übernommen hatten, verhängte das Landratsamt Pirna ein Versammlungsverbot. Es betraf auch ein Willkommensfest für die Flüchtlinge. Die Empörung war groß: "Es ist ein Kniefall vor dem Mob", sagte Jörg Radek, der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, und der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir machte sich trotz des Verbots auf den Weg nach Heidenau. Das Willkommensfest konnte am Freitag dann doch stattfinden, ein entsprechender Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht war erfolgreich. Rechte Demonstrationen sollten am Wochenende verboten bleiben. Auch das ist eine Geschichte dieser Woche.

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