Medizin:Kleine Innereien

In den Labors der Stammzellforscher wachsen mittlerweile menschliche Organe im Miniaturformat nach. Solche Organoide könnten eines Tages sogar Därme heilen und Lebern regenerieren.

Von Kathrin Zinkant

Es gibt diesen Moment, der aufwühlend bleibt in Jürgen Knoblichs Vorträgen. Dann entfährt sogar Kollegen ein kleiner Seufzer, blicken Studenten ergriffen auf das, was sich da im Zeitraffer herausstülpt - ein menschliches Auge, das aus einem menschlichen Gehirn von der Größe einer Hülsenfrucht erwächst. Und das alles auch noch in der Petrischale!

Dabei ist das Mini-Hirn vom Institut für molekulare Biotechnologie in Wien kein Unikat. In den Labors von Stammzellforschern wachsen mittlerweile viele solche Gebilde heran: Es gibt winzige Därme, miniaturisierte Lebern, zwergenhafte Herzen - lauter kleine Innereien, Organoide genannt, die nach Ansicht von Wissenschaftsmagazinen die medizinische Forschung umkrempeln könnten: Science und MIT Technology Review kürten die Hirn-Organoide zweimal zu einem Durchbruch des Jahres gekürt. Zumal diese Miniaturen des zentralen Nervensystem aus einer Art von Zellen gebildet werden, die es vor zehn Jahren noch nicht einmal gab: induzierte pluripotente Stammzellen, kurz iPS-Zellen. Sie lassen sich durch einen genetischen Cocktail aus gewöhnlichen Zellen eines erwachsenen Menschen bilden. Der Prozess heißt Reprogrammierung. Im Grunde spult er die Entwicklung der Zelle zurück bis zu einem frühen embryonalen Zustand.

Danach ist die Zelle fast so vielseitig - Forscher sagen pluripotent - wie eine embryonale Stammzelle, also jenes umstrittene Guts der Biomedizin, das bislang aus überzähligen Embryos gewonnen wurde und in Deutschland nur nach Genehmigung importiert, aber nicht hergestellt werden darf. Die neuen, meist aus der Haut gewonnenen iPS-Zellen dagegen können in jedem Labor gemacht werden. Und wenn man sie richtig behandelt, wachsen sie wie embryonale Stammzellen zu jedem gewünschten Gewebe heran.

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In der luziden Masse des Gels finden die Zellen den Raum für eine höhere Architektur

Es ist dabei nicht neu, dass sich aus Alleskönnern gewünschte Zellen bilden lassen. Heute kann man die meisten Typen menschlicher Gewebe als zweidimensionale Zellschicht aus Stammzellen gewinnen. Doch haben Wissenschaftler zunehmend verstanden, welche Rolle die sogenannte Nische für diesen Vorgang spielt, also das direkte Umfeld der Zelle. Im Körper wird es durch eine Art formgebenden 3D-Kleber gebildet, die sogenannte extrazelluläre Matrix. In Petrischalen kann sie durch das Sekret eines Maustumors nachgestellt werden, das unter dem Namen Matrigel vertrieben wird. In dieser luziden Masse finden die Zellen den Raum für eine höhere Architektur. Und offenbar kennen sie das Ziel. Sie nutzen ihre Chance.

Die erbsengroßen Hirne aus Österreich sind dabei gewiss ein Höhepunkt des Mini-Fiebers in der Biomedizin. Aber die Wiege der Organoid-Kultur liegt nicht in Wien, sondern in Utrecht. Die Königlich Niederländische Akademie der Wissenschaften betreibt dort das Hubrecht Institut für Entwicklungsbiologie. Seit 2002 wird es von Hans Clevers geleitet. Und Clevers, ein mit Forschungspreisen überhäufter Harvard-Absolvent, ist der wohl unangefochtene König der Mini-Därme. Bereits 2009 gelang es ihm, die winzigen Zottengebilde aus Stammzellen zu gewinnen. Dafür benötigte er nicht einmal pluripotente Zellen. Er nutzte jene, dank derer sich die Innenverkleidung eines ganz gewöhnlichen Darms alle vier Tage vollständig erneuert (siehe Texte in der Mitte). "Wir wissen heute, dass sehr wahrscheinlich jedes Organ seine eigenen spezialisierten Stammzellen besitzt", erklärt der Niederländer.

Diese adulten Stammzellen, die das Gewebe eines Menschen ein Leben lang durch die stete Produktion frischen Materials regenerieren, haben durchaus Vorteile gegenüber den Alleskönnern. Zwar sind die Zellen nicht so vielseitig wie pluripotente Stammzellen, aber sie wissen dafür genau, was sie zu tun haben. Sie bilden das richtige Gewebe, ohne allzu viele Fehler zu machen. Zum anderen gibt es sie schon: Sie müssen nicht erst reprogrammiert werden wie iPS-Zellen. Was Zeit spart - sofern man weiß, wo man die adulten Stammzellen aufspüren kann. "In unserem Labor haben wir einen Weg gefunden, diese Zellen im Darm von Mäusen zu markieren", sagt Clevers. Der Marker leuchtete grün, und so konnten die Forscher die sogenannten Zellen isolieren und genauer untersuchen.

Tatsächlich hat sich gezeigt, dass die Darmstammzellen ein paar Gemeinsamkeiten mit anderen Vertretern in der Regenerationsliga haben. In vielen Geweben besitzen adulte Stammzellen einen Marker namens Lgr-5. Hinter dem kryptischen Kürzel verbirgt sich ein Oberflächenmolekül, das zum zentralen Signalsystem der Verjüngung gehört und sich inzwischen als Merkmal der begehrten Zellen durchgesetzt hat. Aber was wollen die Forscher mit den kleinen Gebilden anfangen - außer Staunen zu erzeugen?

Auf lange Sicht, sagt Clevers, seien die Mini-Därme und andere Organoide gewiss Kandidaten für die regenerative Medizin - also Ersatz für kranke oder beschädigte Organe. In Mäusen konnten japanische Forscher bereits Verletzungen der Darmschleimhaut, wie sie bei entzündlichen Erkrankungen wie Morbus Crohn auftreten, mit den Gewebesphären reparieren. Was die meisten Forscher derzeit aber viel mehr interessiert, sind die Krankheiten, die sich mithilfe von iPS-Zellen und Organoiden überhaupt erst gründlich erforschen lassen. Inklusive aller Möglichkeiten, Medikamente an den Gewebebällchen zu testen (siehe Interview )

In Utrecht nutzen die Forscher die Mini-Guts zum Beispiel, um Patienten mit Mukoviszidose zu untersuchen. Die Krankheit ist genetisch bedingt, aber es gibt verschiedene Ausprägungen. Die Wissenschaftler entnehmen dem Patienten ein Stück Darmschleimhaut, isolieren die Stammzellen aus dem Gewebe und gewinnen daraus Organoide. Anhand der Därmchen lässt sich dann überprüfen, welche Medikamente für den Patienten hilfreich sind. Und zumindest in der Kulturschale können die Forscher viele Krankheiten auch schon kurieren: Sie reparieren die defekten Gene mithilfe des Genome Editing, einer ebenfalls erst wenige Jahre alten Methode, mit der sich das Erbgut zielgenau und sehr einfach verändern lässt. Im Patienten geht so etwas nicht, zumal - wie bei der Mukoviszidose - oft verschiedene Organe im Körper von dem Defekt betroffen sind. Aber die korrigierten Zellen lassen sich als perfekte Kontrolle für Experimente verwenden. Sie gleichen den kranken Zellen ja exakt - bis auf die reparierte Stelle im Erbgut.

Aber wie es in der Forschung oft ist: Es geht nicht immer nur ums Patientenwohl, und das meiste Geld kommt aus der Industrie. Die niederländische Organisation für Angewandte Naturwissenschaftliche Forschung TNO hat die Erkenntnisse bereits der industrienahen Ernährungsforschung des Landes übertragen: Mini-Därme sollen helfen, "neue Produkte und Inhaltsstoffe zu entwickeln, die einen vorteilhaften Effekt auf die Darmflora haben". Probiotik aus der Stammzellforschung also? Dafür wären die Organoide doch fast zu schade.

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