Formel 1:Der Tod im Cockpit

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Weil in der Formel 1 lange niemand mehr starb, war es fast verdrängt worden: Motorsport ist lebensgefährlich. Mehrere Unfälle und die heftige Kritik von Sebastian Vettel haben dies in Erinnerung gerufen.

Von René Hofmann, San Francisco/München

Sebastian Vettel fordert Konsequenzen. "Ich weiß nicht, worauf wir warten", sagt der viermalige Formel-1-Weltmeister. Nachdem ihm jüngst beim Großen Preis von Belgien bei Tempo 300 der Reifen platzte, will der 28-Jährige nicht einfach so weiter rasen. Vettel hält die derzeit gefahrenen Pneus für lebensgefährlich. Seine Kritik, im Furor unmittelbar nach dem großen Knall geäußert, untermauerte er im Laufe der vorigen Woche noch einmal - mit der Versicherung, er habe die Reifen ans, aber keinesfalls über das Limit hinaus getrieben. Die Ursachen des Vorfalls sind bislang öffentlich nicht aufgeklärt.

Einen Tag nach Vettels Wutausbruch starb ein ehemaliger Kollege. Dem Briten Justin Wilson, in den Jahren 2001 bis 2003 in der Formel 1 aktiv, wurde beim IndyCar-Rennen auf dem Pocono Raceway im US-Bundesstaat Pennsylvania in voller Fahrt von abgerissenen Trümmerteilen eines anderen Fahrzeugs am Kopf getroffen. Dieses Fahrzeug war gegen eine Mauer gerast. Am nächsten Tag erlag Justin Wilson, 37, seinen Verletzungen.

Mit einem Trauer-Konvoi auf San Franciscos berühmter Golden-Gate-Brücke gedachten die IndyCar-Kollegen dem Toten. An der Spitze des Konvois fuhr Wilsons US-Teamkollege Marco Andretti im Rennwagen des 37-Jährigen. "Es ist sehr bewegend, am Steuer von Justins Wagen über die Golden-Gate-Brücke zu fahren", twitterte Andretti später. Die beiden Rettungswagen, die Wilson auf dem Pocono Raceway zur Hilfe geeilt waren, bildeten das Ende des Trauer-Zuges.

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(Foto: Justin Sullivan/AFP)

Trauer-Konvoi: Das Rennauto des IndyCar-Fahrers Justin Wilson fährt über die Golden-Gate-Bridge, am Steuer sitzt sein Teamkollege Marco Andretti.

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(Foto: Greg Huey/AP)

Wilson starb, nachdem Trümmerteile ihn am Kopf trafen. Ein anderer Fahrer war, wie hier Ed Carpenter eine Woche zuvor, in eine Mauer gerast.

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(Foto: Charles Coates/Getty Images)

Warnt vor einem Unglück in der Formel 1: Sebastian Vettel hält die verwendeten Reifen für lebensgefährlich.

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(Foto: imago)

Zerfetzt: Bei Tempo 300 platzt vergangene Woche einer der Reifen von Vettel, er bleibt unverletzt. Die Ursachen sind noch ungeklärt.

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(Foto: Getty Images)

Im Oktober 2014 verunglückt Jules Bianchi beim Rennen in Japan, danach liegt der Franzose monatelang im Koma. In der vergangenen Woche starb er.

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(Foto: Jean-Pierre Amet/Reuters)

Felipe Massa (Mitte) nimmt am Sarg Abschied in Nizza. Zum ersten Mal seit 21 Jahren muss die Formel 1 einen Fahrer zu Grabe tragen.

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(Foto: Jean-Loup Gautreau/dpa)

Das letzte Formel-1-Opfer vor Bianchi war der brasilianische Weltmeister Ayrton Senna, der 1994 beim Rennen in Imola ums Leben kam.

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(Foto: Carmen Jaspersen/dpa)

Massa wurde 2009 von einer Dämpferfeder eines anderen Fahrzeuges am Kopf getroffen und mit dem Helikopter ins Krankenhaus geflogen.

21 Jahre lang, seit Ayrton Senna, gab es keinen Toten in der Formel 1

Die Formel 1, in der Vettel unterwegs ist, hatte lange keinen Toten zu betrauern. Genau 21 Jahre lang. Bis zum Juli. Da wurde der Franzose Jules Bianchi in Nizza zu Grabe getragen. Bereits im Oktober war er beim Großen Preis von Japan verunglückt, lange lag er im Koma. Es war der erste aktive Formel-1-Pilot, dessen Tod auf einen Rennunfall zurückgeführt wurde, seit 1994 der legendäre Brasilianer Ayrton Senna starb. Mit immer mehr Distanz zu Sennas Unfall, mit Fortschritten bei der Sicherheit, entwickelte sich ein trügerisches Gefühl. Die Fahrer drehten ihre Runden und verloren die Angst davor, dass ihnen der Tod auf der Rennstrecke begegnen könne. Ein Irrtum.

Auch die Öffentlichkeit ließ sich täuschen. Denn die Königsklasse, die Formel 1, überstrahlt alles. Kein Toter in dieser Klasse seit Senna - das verleitete zu der Vermutung: Der Motorsport sei sicher geworden. Das aber stimmt nur sehr eingeschränkt. Es gab tödliche Unfälle. Zahlreiche sogar. In vielen unterklassigen Serien. Der 18-jährige Formel-2-Fahrer Henry Surtees wurde 2009 in Brands Hatch von einem abgerissen Rad erschlagen, der Motorrad-WM-Fahrer Shoya Tomizawa wurde 2010 in Misano überfahren, sein Kollege Marco Simoncelli im Jahr darauf in Sepang. Im Rahmenprogramm der Deutschland-Rallye starben 2013 bei einem Unfall der Pilot und der Co-Pilot in einem historischen Fahrzeug.

Können die Cockpits noch besser geschützt werden?

Auch in der Formel 1 gab es schon vor dem Tod von Jules Bianchi viele kritische Situationen. 2009 flog Felipe Massa in Ungarn die Dämpferfeder eines anderen Fahrzeugs gegen den Kopf. Sie traf den Brasilianer hart, trotz Helm. Längst fährt er wieder. Voriges Jahr überstand Massa in Montreal unverletzt einen schrecklichen Highspeed-Crash. Der Unfall verlief ebenso glimpflich wie der des Polen Robert Kubica im Jahr 2007 an gleicher Stelle - sein BMW flog mit fast 300 km/h gegen eine Mauer. Auch wenn tatsächlich einiges für die Sicherheit getan wurde: Dass die Formel 1 so lange keinen Toten zu Grabe tragen musste, hatte sehr, sehr viel mit Schutzengeln und Rennfahrerglück zu tun.

Das sollten alle Beteiligten bedenken, wenn sie jetzt die Frage diskutieren, was nach Vettels Kritik mit den Reifen geschehen muss. Und der Motorsport insgesamt muss nach dem Unfall von Justin Wilson prüfen, ob die Cockpits nicht noch besser geschützt werden können. Solche Sicherheits-Debatten, in denen es konkret um das Leben der Piloten geht, wurden zuletzt nicht offensiv geführt.

Eine zynische Gleichung der Haudegen

Angesichts des schrumpfenden Interesses an der Formel 1 fand die Fraktion der unerschrockenen Haudegen wie Formel-1-Chef Bernie Ecclestone, 84, und Ex-Weltmeister Niki Lauda, 66, immer mehr Gehör, die fordert: Die Autos sollten mehr so sein wie früher - härter, brachialer, lauter. Damit die Fahrer an den Computerknöpfen am Lenkrad wieder mehr gefordert sind. Zurück in die Zukunft? Neulinge, so Lauda allen Ernstes, müssten sich gehörig in die Hosen machen. Hose voll = Kassen voll - das ist eine zynische Gleichung. Sie ignoriert, was heute immer noch auf jeder Eintrittskarte steht: Motorsport ist gefährlich.

© SZ vom 30.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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