Zweiter Weltkrieg:Ein Diplomat im Angesicht des Todes

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Andre Francois-Poncet nach seinem Antrittsbesuch beim Reichspräsidenten Paul von Hindenburg im Jahr 1931 (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

In Nazi-Geiselhaft führt Frankreichs Ex-Botschafter André François-Poncet ein Tagebuch. Wie ein Romancier beschreibt der Diplomat den Alltag dort - und die Vorzüge deutscher Syntax.

Rezension von Ulrich Wickert

Diese Erinnerungen eines Gefangenen lesen sich wie ein französischer Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert. Nicht Zola, auch nicht Flaubert, nein, eher Balzac. Ein herausragender Autor führt zu einer ungeheuerlichen Zeit knapp zwei Jahre lang Tagebuch.

André François-Poncet, Botschafter Frankreichs in Berlin von 1931 bis 1938 und anschließend in Rom von 1938 bis 1940, wird Ende August 1943 in Frankreich verhaftet. Er nimmt gerade mit seiner Familie das Mittagessen in seinem Haus in einem Vorort von Grenoble ein, als ihn zwei SS-Männer mit Maschinenpistolen im Anschlag auffordern, sofort mitzukommen. Draußen im Auto sitzt schon Albert Lebrun, von 1932 bis zu seiner Ablösung 1940 durch Marschall Philippe Pétain französischer Präsident. Auch er war festgenommen worden. Weshalb? Auf diese Frage erhalten beide nie eine Antwort.

Anfang September werden der Botschafter und der Präsident nach Nordtirol in das Schloss Itter gebracht. Es wurde Ende des 19. Jahrhunderts auf einer alten Burgruine errichtet und ist heute in Privatbesitz. Schloss Itter war eine Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau, wo prominente Häftlinge gefangen gehalten wurden. Sie fühlen sich als Geiseln.

Fast jeden Tag liest der Gefangene ein neues Buch

Lebrun und François-Poncet werden bei ihrer Ankunft unter anderem von den ehemaligen französischen Premierministern Édouard Daladier und Paul Reynaud empfangen. Und zur Gruppe dieser Ehrengeiseln gehören auch General Maurice Gamelin, 1940 noch Oberbefehlshaber der alliierten Truppen in Frankreich und der spätere Friedensnobelpreisträger (1951) Léon Jouhaux, ein Gewerkschafter und Politiker.

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Später wird auch noch der ehemalige italienische Ministerpräsident Francesco Nitti zu ihnen stoßen. Nitti war schon 1924 in die Schweiz geflohen und hatte in den Dreißigerjahren den Widerstand gegen den Faschisten Mussolini von Paris aus geleitet.

Wie ein großer Romancier beschreibt François-Poncet das tägliche Leben im Schloss, seine ausführliche Lektüre und die Gespräche der hohen Herren. Beim Frühstück geht es eines Morgens um die Frage, weshalb Frankreich zu Kriegsbeginn militärisch nicht besser vorbereitet war, nicht einmal bei Hitlers Einmarsch 1940. Daladier macht den Generalstab verantwortlich. Dessen damaliger Chef Gamelin sitzt mit am Tisch und findet Ausreden. Die Stimmung wird gereizt. "Ein jeder spürt, dass es besser ist, sich nicht näher auf dieses gefährliche Thema einzulassen". Aber solchen Themen können die "Ehrengefangenen", wie sie von den Nazis genannt werden, nicht immer ausweichen.

André François-Poncet mit seiner Frau Jacqueline in Berlin. Er war von 1931 bis 1938 Botschafter in Berlin, von 1943 bis 1945 "Ehrengefangener" des NS-Staates. (Foto: Scherl/SZ Photo)

Nach drei Monaten wird François-Poncet ins Kleinwalsertal verlegt. Dort hatte Ernst Kaltenbrunner, SS-Mann und Leiter des Reichssicherheitshauptamts, das Hotel Ifen beschlagnahmt, von dem es im Tagebuch heißt, es sei "wunderschön gelegen, komplett neu, mit Eleganz möbliert und augenscheinlich äußerst gepflegt". Bald folgt ihm von Schloss Itter auch der Italiener Nitti, und andere "Ehrengefangene" erweitern die Runde: ein ehemaliger Schulkamerad des Autors, französische Politiker und Generäle, eine italienische Herzogin mit ihrer Tochter.

Politische Gespräche, Spaziergänge in diesem berauschenden Alpental, kleine Streitereien mit den deutschen Bewachern, aber auch zwischen den ausländischen Geiseln schildert der ehemalige Botschafter mit der gleichen Ausführlichkeit, wie er seine Lektüre beschreibt. Fast jeden Tag liest er ein neues Buch. Und er urteilt scharf. "Othello gelesen. Die Unstimmigkeiten bezüglich Shakespeares Identität amüsieren mich. . ." Alexandre Dumas' "Eine Reise an die Ufer des Rheins im Jahre 1838" hält er für naiv, simpel und vulgär im Ton: "Mit wie wenig man sich zu dieser Zeit begnügte!" Balzac, Taine und Châteaubriand kommen da besser weg.

André François-Poncet zweifelt daran, ob er diesen Krieg überleben wird. Er befürchtet, dass ihn eines Tages ein Auto mit zwei Männern abholen wird. Und wenn das Auto irgendwo ankommt, dann sitzt er nicht mehr drinnen. Weil er unterwegs erschossen worden ist. Denn er weiß, dass die Nazis beim Einmarsch in Paris auch alle Akten des französischen Außenministeriums beschlagnahmt haben. Und dort werden sie seine kritischen Berichte aus Berlin gelesen haben. 1938 bat er die französische Regierung um Versetzung nach Rom, weil er die deutsche Kriegserklärung erwartete und nicht in Empfang nehmen wollte. Dafür wurde ihm in Rom schließlich die italienische Kriegserklärung übergeben.

André François-Poncet hatte die für französische Diplomaten typische Eliteausbildung genossen. Er spricht fließend Deutsch, wird Germanist, veröffentlicht als junger Mann ein Jahr vor dem Ersten Weltkrieg ein Buch über die deutsche Jugend, will Journalist werden, dient in der "Grande Guerre", lässt sich in den Zwanzigerjahren zum Abgeordneten wählen, wird sogar Unterstaatssekretär, bis er 1931 als Botschafter nach Berlin entsandt wird.

Nach dem Krieg wird er 1949 Hoher Kommissar Frankreichs im besetzten Deutschland und zum Schluss noch kurze Zeit französischer Botschafter in Bonn. Er gehört zu den französischen Diplomaten, die einen Hang zur Literatur hatten, wenn er sich auch nicht wie die Diplomaten Jean Giraudoux oder Paul Claudel als Autor großes Renommee erschrieb. Immerhin wurde er 1952 zum Mitglied der Académie française gewählt - auf den vakant gewordenen Sitz von Marschall Pétain.

André François-Poncet, Tagebuch eines Gefangenen. Erinnerungen eines Jahrhundertzeugen, herausgegeben von Thomas Gayda. Aus dem Französischen von B. Sommer und G. Unger-Forray, Europa Verlag 2015. 608 Seiten, 29,99 Euro. (Foto: Verlag)

Und so macht er sich auch Gedanken über den Unterschied der Sprachentwicklung in Frankreich und Deutschland. Er liest im Laufe des Februar 1945 den Romanzyklus Gargantua und Pantagruel von Anfang bis Ende und findet Vergnügen an der lebhaften Sprache von Rabelais, der das Deutsch, das Luther schrieb, "ganz und gar vergleichbar" war.

Hundert Jahre nach Rabelais schreibt Corneille den Cid, aber jetzt ist die "Syntax gereinigt, geklärt. . . Was vom 16. bis zum 17. Jahrhundert die Syntax des Französischen an Strenge, an Stärke, an logischer Kraft gewonnen hat, hat sie an Wendigkeit verloren." Die französische Sprache sei für die Literatur verarmt und habe, mit dem Deutschen verglichen, "weniger Möglichkeiten, woraus es schöpfen kann".

Der Tagebuchschreiber mischt die Themen. Außer seinen literarischen Bemerkungen schildert er das tägliche Leben im Hotel mit seinen hohen Nazi-Gästen, die ihre Familien vor dem Krieg in Berlin in Sicherheit bringen wollen. Immer wieder bekennen sich Deutsche aus der gehobenen Bildungsschicht zum Glauben an die Wunderwaffe. Mit ihr werde Hitler Großbritannien in die Knie zwingen. Die Konferenz von Jalta aber ist für den Diplomaten François-Poncet ein Fiasko: Frankreich nimmt daran nicht teil.

Dem folgt der Streit zwischen de Gaulle und Roosevelt um die Teilnahme an der Konferenz von San Francisco. Dort werden die UN gegründet und Jalta wird besiegelt. Frankreich ist schließlich doch dabei und erhält einen ständigen Sitz mit Vetorecht im Sicherheitsrat. Für den Autor ist klar, dass Frankreich nicht zulassen konnte, dass "die Alliierten und die Russen sich daran gewöhnen, über es zu bestimmen".

Als die französischen Truppen im April 1945 in Süddeutschland vorrücken, fädelt er mit einer deutschen Widerstandsgruppe, die sich im März im Kleinwalsertal gebildet hatte, den Kontakt zu den Franzosen ein und sorgt für eine friedliche Übergabe. Die französischen Panzer kommen pünktlich. Am 2. Mai 1945 endet das "Tagebuch eines Gefangenen" mit dem Jubelruf "Adieu, du Tal der Walser! Jetzt sind wir wieder frei!"

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Es ist das Verdienst des im Kleinen Walsertal aufgewachsenen Musikhistorikers Thomas Gayda, dass die schon 1952 unter dem Titel "Carnets d'un captif" in Frankreich erschienenen Aufzeichnungen jetzt endlich auch in deutscher Übersetzung erschienen sind. Er stieß auf das Tagebuch bei zeitgeschichtlichen Recherchen.

Gayda hat als Herausgeber in seinem Vorwort noch spannende Details aus dem Leben des "Ehrengefangenen" François-Poncet gesammelt. So schildert er einen Besuch François-Poncets 1950, inzwischen Hoher Kommissar der Alliierten in Deutschland, begleitet von Frau und Tochter im Walsertal. Im Hotel Ifen bezog er seine einstige "Zelle" als Hotelgast.

Heute erinnert eine Gedenkplakette an den Besucher. Sie ist im "Wäldele" angebracht, wo François-Poncet bei seinen langen Spaziergängen besonders gern anhielt, um zu sinnieren.

Ulrich Wickert ist Journalist und Autor.

© SZ vom 01.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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