Flüchtlinge in Deutschland:Es gibt viel wiedergutzumachen

Flüchtlinge in Deutschland: Ein Junge wartet in einem Flüchtlingszug auf die Abfahrt.

Ein Junge wartet in einem Flüchtlingszug auf die Abfahrt.

(Foto: Robert Atanasovski/AFP)

Einmauern oder teilen: Das alte Asylgrundrecht war kompromisslos. 1993 wurde es abgeschafft. Die Politik glaubte, damit sei das Flüchtlingsproblem gemeistert - ein Irrtum.

Von Heribert Prantl

Das alte Asylgrundrecht war ein Leuchtturm im Hafen der Verfassung. Dieser Leuchtturm wurde 1993 abgeschaltet und durch ein Teelicht ersetzt. Die Politik glaubte damals, die Flüchtlinge kämen deswegen nach Deutschland, weil es dieses große und leuchtende Asylgrundrecht gibt. Sie glaubte daher, wenn man das Grundrecht ausschaltet, schalte man das Flüchtlingsproblem aus. An die Stelle des alten Artikels 16 Absatz 2 wurde daher der Artikel 16 a Grundgesetz gesetzt, der aus dem großen Asyl ein ganz kleines machen wollte.

Deutschland habe nun lange genug unter seiner geographischen Lage im Herzen Europas gelitten, so hieß es zu Beginn der neunziger Jahre. Man könne nicht, so hieß es damals landauf landab, "alles Leid der Welt aufnehmen" (die Flüchtlingszahlen lagen damals bei einem Fünftel der heutigen). Man solle sich, hieß es, in der Flüchtlingsfrage diese Lage Deutschlands in der Mitte Europas doch einmal zunutze machen - und die Staaten, die Deuschland wie ein Ring umgeben, zur Auffangzone für Flüchtlinge erklären.

Das tat der neue Artikel 16 a Grundgesetz. Er erklärte, dass künftig nicht Deutschland, sondern vor allem die Nachbarstaaten für die Flüchtlinge zuständig sein sollten. Die Nachbarstaaten wurden zu sicheren Drittländern erklärt; Deutschland umgab sich mit einem Cordon sanitaire, mit einer selbstgezogenen Sicherheitszone, und setzte dieses Modell auch auf europäischer Ebene durch; in der Dublin-Verordnung wurde das festgeschrieben. Damit, so glaubte die deutsche Politik, sei das Problem mit den Flüchtlingen fürs erste erledigt. Das stimmte in gewisser Weise auch - die Flüchtlingszahlen sanken.

Die Probleme, die man damals weggeschoben hat, sind wieder da

Aber diese erste Zeit ist vorbei. Die Not am Rande Europas, das Elend und der Krieg vor den Toren Europas sind stärker als das Abwehr-Asylrecht von 1993. Die Probleme, die man damals weggeschoben hat, sind wieder da, größer als damals. Und heute gibt es kein Asylgrundrecht mehr, das man verantwortlich machen könnte für das, was - immer noch im Katastrophenjargon - "Flüchtlingsströme" genannt wird.

22 Jahre nach der Änderung des Asylgrundrechts gibt es auch noch immer kein Einwanderungsrecht, das Migranten, Arbeitskräften, abseits des Asyls, einen genau geregelten Weg nach Deutschland öffnen könnte. Schon damals, zu Beginn der neunziger Jahre, wurde über ein solches Einwanderungsgesetz debattiert; die SPD war dafür, die Grünen auch. Und diejenigen, die dafür warben, machten das auf sehr plastische Weise: Asylbewerber, so hieß es, das seien die Leute, "die uns brauchen". Einwanderer, Arbeitsmigranten, so hieß es, das sind die Leute, "die wir brauchen".

Ein Einwanderungsgesetz wurde am 6. Dezember 1992 immerhin Teil des berühmt-berüchtigten Asylkompromisses, der wegen des Datums als "Nikolauskompromiss" bezeichnet wird und zwischen CDU/CSU und SPD vereinbart wurde; die SPD wollte ein solches Einwanderungsgesetz als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Asylgrundrechtsänderung haben. Für die Grundgesetzänderung war eine Zweidrittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig; und diese Mehrheit kam nur zustande, wenn und weil die SPD zusammen mit der CDU/CSU der Grundgesetzänderung zustimmte.

Ein Einwanderungsgesetz kam bis zum heutigen Tag nicht zustande

Bei einer Klausurtagung am 22./23. August 1992 auf dem Petersberg bei Bonn hatte die SPD unter ihrem damaligen Vorsitzenden Björn Engholm ihren Widerstand gegen die Änderung des Asylgrundrechts aufgegeben. Den SPD-Mitgliedern wurde dann der Nikolauskompromiss mit der Union und die Änderung des Asylgrundrechts schmackhaft gemacht mit den angeblichen Pluspunkten, die die SPD-Spitze in das sogenannte Asylpaket hinein verhandelt hatte; zu diesen Pluspunkten gehörte das von der SPD propagierte Einwanderungsgesetz. Es wurde freilich in dem zwischen CDU/CSU und SPD formulierten Asylkompromiss nur in völlig unverbindlicher Form erwähnt. Das Einwanderungsgesetz kam bis zum heutigen Tag nicht zustande. Das "Paket", von dem die SPD damals stets redete, war zwar geschnürt worden; wer es öffnete, der bemerkte, es war leer - also eine Mogelpackung.

Interessanterweise ist ein Einwanderungsgesetz auch heute wieder Verhandlungsmasse: In der SPD, vor allem aber bei den Grünen, wird ein Einwanderungsgesetz gefordert als Gegenleistung für die Zustimmung zu einer von der Union propagierten stark ausgeweiteten Regelung über "sichere Herkunftsländer". Die Staaten Südosteuropas sollen, so ist es von der Union geplant, allesamt als sichere Herkunftsländer gelten, um Flüchtlinge von dort ganz schnell wieder abschieben zu können. Werden sich SPD und Grüne beim neuen Versuch, ein Einwanderungsgesetz zu schaffen, wieder so über den Tisch ziehen lassen, wie es die Sozialdemokraten 1992/93 mit sich haben machen lassen?

Wer für Schutz und Hilfe warb, wurde ausgelacht

Die ganze Geschichte der Änderung und radikalen Verkleinerung des alten Asylgrundrechts ist eine unselige Geschichte, die bis heute nachwirkt. Im damaligen Asylstreit wurden in nie zuvor geschehener Weise ein Grundrecht und seine Schutzbefohlenen verketzert; Anschläge auf Flüchtlinge und Flüchtlingsheime, 1990 bis 1993 fast tagtäglich, waren die Folge. Zwanzig Jahre lang dauerte dieser Streit über das Asylrecht, der schließlich zur Hetze wurde; mit der deutschen Einheit wurde er lauter, böser, orgiastischer. Über das Asylgrundrecht wurde geredet als sei es der Hort von Pest und Cholera.

Eine immer bedrohlichere Atmosphäre entstand. Humanität geriet zum Schimpfwort. "Humanitätsduselei" war noch das mildeste. Wer für Schutz und Hilfe warb, wurde ausgelacht. Wer das Grundrecht erhalten wollte, wurde beschimpft. Wer Flüchtlinge Schmarotzer nannte, konnte mit donnerndem Applaus rechnen. So entstand die vielleicht gefährlichste politische Formel in der Geschichte der Bundesrepublik, nämlich: Wer gegen die Änderung des Asylgrundrechts ist, der will nichts gegen die steigenden Flüchtlingszahlen tun, der will alles schleifen lassen, der sieht die Probleme nicht.

Die Parteien ließen sich treiben vom wachsenden Rechtsradikalismus

Elias Canetti hat in seinem Werk Masse und Macht über die Dynamik von Bewegungen nachgedacht. In den Kategorien seines Denkens waren CDU/CSU, SPD und FDP in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren eine Fluchtmasse, getrieben vom wachsenden Rechtsradikalismus, von den Anschlägen auf Flüchtlingsheime. Die Parteien haben damals ihre alten Positionen und Stellungen verlassen, haben das weggeworfen, was ihnen bei der Flucht hinderlich sein konnte. Sie nahmen die Rechtsaußen-Parole vom "vollen Boot" auf. Das Schlimme und Unerträgliche an der damaligen Asyldebatte war auch, dass sich die rechtsextremen Gewalttäter als Vollstrecker fühlen konnten, als eine Art Kampfsporttruppe einer Bürgerpolizei. Sie konnten darauf verweisen: Die etablierten Parteien sagen jetzt das, was wir auch sagen - wir sagen es nur noch deutlicher.

Die Sozialdemokraten fanden damals kein Gegenmittel, um die Faszination der angeblich einfachen Lösung - "weg mit dem alten Asylgrundrecht" - aufzulösen. Sie mühten sich, den Deutschen etwas von der Genfer Flüchtlingskonvention zu erzählen und auch von der historischen Schuld, deren Ergebnis das Asylgrundrecht sei. Es war vergeblich. Die Verteidiger des Grundrechts wurden schwächer und schwächer.

Artikel 16 Absatz 2 Grundgesetz war aber nicht nur wichtig als Schutzgarantie für Flüchtlinge. Das alte Asylgrundrecht war auch deswegen so wichtig, weil es so kompromisslos war. Diese Kompromisslosigkeit hätte klar machen können, dass die Flüchtlingspolitik ganz neue Wege gehen muss, dass es nur eine Alternative gibt: Man kann versuchen, sich einzumauern - oder seinen Reichtum teilen.

Es kam aber dann die Wiedervereinigung; und die Deutschen hatten andere Sorgen als die Not der Welt: Die deutsche Einheit war zu bezahlen, der Wohlstand im Westen musste erhalten, der Wohlstand im Osten aufgebaut werden. Es gab zu viele Schwierigkeiten mit der eigenen Lage, als dass man sich noch um die Schwierigkeiten anderswo hätte kümmern können oder wollen - das war die Grundstimmung damals.

Und so begann die deutsche Einheit damit, dass ein fraglos schwieriger Auftrag des Grundgesetzes abgeschüttelt wurde. Der Bericht der Arbeitsgruppe "Flüchtlingskonzeption", den Wolfgang Schäuble 1990 als Bundesinnenminister vorgelegt hatte - und in dem es auch um die Bekämpfung von Fluchtursachen ging -, verschwand in der Schublade. Fluchtursachenbekämpfung, wie sie schon damals propagiert, aber dann der deutschen Einheit wegen wieder vergessen wurde, verlangt erst einmal das Eingeständnis, dass die Armen auch am Reichtum der Reichen verhungern.

"Das Gute an den Asylanten ist ja, dass man sie leichter erkennt als die Juden"

Die Versuche, für Flüchtlingsschutz zu werben, waren vor 25 Jahren viel, viel leiser als heute - es gab damals nur Außenseiter wie Pro Asyl. "Wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ist humanes Leben nicht mehr möglich. Und so suchen die Flüchtlinge, die zu uns kommen, weniger den goldenen Westen als vielmehr Schutz." Diese Sätze stammen aus einer Anzeige, mit der Anfang 1992 Pro Asyl um Hilfe für die Flüchtlinge warb. Und das war eine der Reaktionen: "Das Gute an den Asylanten ist ja, dass man sie leichter erkennt als damals vor 50 Jahren die Juden. Die Asiaten, Neger und Südländer werden uns nicht durch die Lappen gehen". Die Anzeigenkampagne hatte um Hilfe gebeten. Die Antwort war wenig Geld und viel Hass.

Flugblätter, wie die damals zirkulierten, mit einem gereimten Sammelsurium von Vorurteilen und Gemeinheiten, tauchen heute wieder auf, mit neuen bösartigen Reimen. Titel: "Der Asylbetrüger in Deutschland". Aber heute gibt es Widerstand gegen solche Gemeinheiten, nicht nur von Pro Asyl. Heute spricht die Bundeskanzlerin davon, dass Deutschland für Flüchtlinge "ein Land der Hoffnung" sein solle. Das ist ein großes Wort. Daran wird man die Flüchtlingspolitik messen müssen. Es gibt viel wieder gut zu machen. Die große politische Kampagne zur Abschaffung des alten Asylgrundrechts hat furchtbare Schäden angerichtet. Sie wirken bis heute nach.

Einmauerei hat noch nie in der Geschichte geholfen

An dem Abend des 6. Dezember 1992, an dem Tag, an dem CDU/CSU und SPD mit dem "Nikolauskompromiß" letzte Hand an das alte Asylgrundrecht legten, leuchteten in München über vierhunderttausend Lichter gegen Fremdenhass, Antisemitismus und Gewalt. Die Lichterkette vom 6. Dezember 1992 wurde in München zur größten Demonstration der Nachkriegszeit. Andere Städte schlossen sich an. Die Lichterketten hätten den Politikern schon damals etwas sagen können: Mit einer solchen Bürgerschaft kann man über die gigantischen Dimensionen des Weltflüchtlingsproblems reden; man muss die Schwierigkeiten nicht vertuschen, man muss nichts schön reden.

Nun, im Spätsommer und Herbst 2015 beginnt, hoffentlich, das, was schon vor 23 Jahren hätte beginnen können: Eine Flüchtlingspolitik, die sich den Problemen stellt und nicht vor ihnen davonläuft; es beginnt, hoffentlich, eine Flüchtlingspolitik, die im Flüchtling nicht den Eindringling sieht, sondern den Menschen, der Schutz braucht. Und es wird, hoffentlich, dem Asylrecht endlich ein Einwanderungsrecht zur Seite gestellt.

Ein Einwanderungsgesetz wird das Asylrecht entlasten, es wird Deutschland nutzen. Das wird Anstrengung, Kraft und viel Geld kosten. Die Alternative heißt: Einmauern. Solche Einmauerei hat noch nie in der Geschichte geholfen. Der Kaiser, der in Max Frischs gleichnamigem Stück "Die chinesische Mauer" bauen lässt, tut dies, "um die Zukunft zu verhindern". Es wäre schlecht, wenn dieser Kaiser in Europa noch immer seine Minister hätte.

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