Deutschland und die Flüchtlinge:Was Europa von Merkels Flüchtlingspolitik hält

A migrant holds up a portrait of German Chancellor Merkel at a railway station in Vienna

Flüchtlinge halten am Bahnhof in Wien ein Foto von Angela Merkel in die Höhe.

(Foto: REUTERS)

Für viele Franzosen ist das Nachbarland ein Modell, in Polen redet man lieber nicht darüber - erneut wandelt sich das Bild der Deutschen. Meist zum Positiven.

Großbritannien

David Cameron hat nachgegeben. International und im Land selbst war der Druck gewachsen, und so kündigte er am Freitag an, dass Großbritannien mehr Flüchtlinge aufnehmen werde. Der britische Premierminister sagte am Rande eines Besuchs in Portugal: "In Anbetracht des Ausmaßes der Krise und des Leids der Menschen kann ich heute verkünden, dass wir mehr tun werden - wir werden Tausende syrische Flüchtlinge aufnehmen."

In den vergangenen Tagen war die britische Regierung für ihre harte Haltung in der Flüchtlingsfrage zunehmend in die Kritik geraten. Vertreter von Kirche, Politik und Hilfsorganisationen mahnten an, dass das Land sich stärker engagieren müsse. Dann kam das Bild des toten syrischen Jungen am Strand von Bodrum. Da erhöhten auch die Medien den Druck auf Cameron. Zuvor hatte insbesondere die konservative Presse den Kurs des Premiers weitgehend unterstützt. Cameron hatte noch Mitte der Woche gesagt, es sei keine Lösung, "mehr und mehr" Menschen aufzunehmen, und darauf verwiesen, dass das Vereinigte Königreich bereits 900 Millionen Pfund für humanitäre Hilfe in Syrien bereitgestellt habe, mehr als jedes andere europäische Land.

Von Portugal reiste Cameron am Freitag weiter nach Spanien. Dort erläuterte er, Großbritannien werde Flüchtlinge aus Lagern in den Krisenregionen aufnehmen. Das stelle sicher, dass sie auf direktem und sicherem Wege ins Land kämen und sich nicht auf eine gefährliche Reise nach Europa begeben müssten: "Wir werden mit unserem Herzen und unserem Hirn handeln und Zuflucht für Menschen in Not bieten, während wir weiterhin daran arbeiten, das Problem langfristig zu lösen." Wie viele Flüchtlinge das Königreich genau aufnehmen will, sagte Cameron nicht. Darüber werde nun mit Hilfsorganisationen und den Vereinten Nationen gesprochen. Genaueres wolle er in der kommenden Woche verkünden. Deutschlands Flüchtlingspolitik erwähnte er nicht.

Das tat dafür der frühere Außenminister David Miliband, der seit 2013 Präsident des International Rescue Committee ist. Der Labour-Mann forderte, Großbritannien solle Zehntausende aufnehmen. Deutschland mache mit seiner Flüchtlingspolitik "ein bemerkenswertes Statement", an dem sich andere Länder ein Beispiel nehmen könnten. Seit 2011 hat Großbritannien knapp 5000 Syrern Asyl gewährt. Seit 2014 wurden in einem Programm für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge zudem 216 Menschen aus Syrien aufgenommen. Insgesamt haben zwischen Juni 2014 und Juni 2015 nach offiziellen Angaben 25 771 Menschen in Großbritannien Asyl beantragt. Christian Zaschke

Griechenland

Irgendwann während der Verhandlungen zwischen Griechenland und den europäischen Geldgebern fiel immer dieser Name: Wolfgang Schäuble. Dann änderte sich die Tonlage bei den Griechen, mit denen man sprach, oft ins Bedauernde, bisweilen Zornige. "Warum tut er das? Warum ist der deutsche Finanzminister so hart?" Vor allem Deutschland wollte, dass die Griechen nach fünf Jahren Entbehrungen noch mehr sparen: Wieder sollten Renten gekürzt, Beamte entlassen werden. Das unnachgiebige Auftreten weckte bei älteren Griechen finsterste Erinnerungen aus der Zeit der deutschen Besatzung. In die sonst so verbreitete Bewunderung für die starke deutsche Wirtschaft mischte sich Angst.

Refugees and migrants wait for a registration procedure to begin at the port of Mytilene on the Greek island of Lesbos

Flüchtlinge am Hafen der girechischen Insel Lesbos.

(Foto: REUTERS)

Nun ändert sich gerade etwas: Deutschland hilft Flüchtlingen, ohne gleich mal Bedingungen diktieren zu wollen. "Alle sprechen darüber, dass Deutschland das einzige Land ist, das so eine Politik verfolgt", sagt die frühere griechische Außenministerin Dora Bakoyannis. Giorgos Katrougalos, bis zur Ausrufung der Neuwahlen Minister für Soziales und Arbeit, meint, die Bundesrepublik glänze mal nicht durch Wirtschaftsdaten, sondern durch "Soft-Power". "Wenn ein Land seine Verantwortung so wahrnimmt, steigert dies natürlich auch das Prestige." Mit einer gewissen Genugtuung sehen viele Griechen, dass sich Deutschland nun einem Problem stellen muss, dem bislang vor allem die Länder an den EU-Außengrenzen ausgesetzt waren. Mike Szymanski

Frankreich

Voller Bewunderung blicken die Franzosen nach Osten: Dass (und wie überwiegend herzlich) die Deutschen dieses Jahr prognostizierte 800 000 Flüchtlinge begrüßen - das beeindruckt die Franzosen. Ihre eigene Nation, die sich seit der Revolution von 1789 gern als Fluchtburg für politisch Verfolgte begreift, wird bis Jahresende wohl nur 70 000 neue Asylsuchende registrieren. Seit Beginn des Arabischen Frühlings bis Juli 2015, so rechnen französische Medien vor, hat Frankreich nur 6657 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. In Deutschland kamen derweil 98 783 Syrer unter - fast 15 Mal so viele.

Deutschland ist, wieder mal, Vorbild. Nur, diesmal sind es nicht wie üblich konservative und liberale Stimmen, die des Nachbarn Wirtschaftskraft bestaunen und von der linken Regierung mehr Reformen nach dem "modèle allemand" fordern. Diesmal verkehren sich die Fronten: Allen voran die französische Linke lobt Angela Merkel als "Kompass" und "moralische Anführerin" Europas. Auch Präsident François Hollande ist beeindruckt. So sehr, dass er dem deutschen Vorschlag folgte, die Flüchtlinge in der EU mit "einem dauerhaften und verbindlichen Mechanismus", also mit Quoten, gerechter zu verteilen. Noch im Mai hatte er das abgelehnt.

Im Abseits steht die französische Rechte. Oppositionsführer Nicolas Sarkozy will - wie der Front National - das Schengen-Abkommen aufkündigen. Der Ex-Präsident klingt dumpfer denn je, zu den EU-Quoten für Flüchtlinge fiel ihm das Bild eines Klempners ein, der nach einem Rohrbruch nicht das Rohr flicken, sondern die Wasserflut gleichmäßig im Haus verteilen wolle. Premier Manuel Valls hat diese Woche an Sarkozys Rhetorik erinnert. Und hinzugefügt, der Konservative solle sich an seiner alten Freundin aus Berlin ein Beispiel nehmen - "statt Marine Le Pen hinterherzulaufen". Christian Wernicke

Polen

Forscher des polnischen Ipsos-Instituts waren erstaunt, als sie ihre Landsleute kürzlich zum Thema Ausländer befragten. Jeder fünfte Pole glaubte, ein Zehntel der Bevölkerung Polens - 38,5 Millionen Einwohner - seien Ausländer. Doch statt knapp vier Millionen leben nicht einmal 194 000 Ausländer legal im Land. Die wenigsten sind Flüchtlinge. Polen ist nicht leicht zu erreichen, die Sprache schwer - und Polen gilt als wenig fremdenfreundlich. Dem UN-Flüchtlingshilfswerk zufolge lebten Ende 2014 in Polen nur 29 000 Flüchtlinge, Asylbewerber und Staatenlose. Daran hat sich wenig geändert. Bis Ende August beantragten gerade 6699 Ausländer ihre Anerkennung als Flüchtling. Nur wenige bekommen sie. Im Juli erklärte sich Polen bereit, innerhalb der nächsten zwei Jahre 2000 Flüchtlinge aufzunehmen - zusätzlich zu knapp 200 syrischen Christen, die im Juli kommen durften. Ministerpräsidentin Ewa Kopacz und Präsident Andrzej Duda rechtfertigen die Ablehnung weiterer Flüchtlinge mit der Aufnahme Zehntausender Ukrainer. Die aber sind keine anerkannten Flüchtlinge, sondern meist Studenten oder Leute, die Arbeiten übernehmen, die wegen der Emigration von Polen nach Deutschland oder England nicht mehr mit Einheimischen besetzt werden. 2014 reichten nur gut 2300 Ukrainer einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling ein - nicht einer wurde anerkannt. In diesem Jahr waren es zwei.

Dass Deutschland so viele Flüchtlinge aufnimmt, lassen Medien wie die größte Boulevardzeitung Fakt nahezu unerwähnt - sie beschäftigen sich lieber mit der Fantasie eines angeblichen Nazi-Goldzuges. Andere berichten zwar, hüten sich aber, die Deutschen dafür zu loben - denn dann müsste ja auch Polen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Florian Hassel

Schweden

Schweden möchte es schon seit Jahren: Brüssel soll endlich die Zuwanderung in die EU neu regeln, und die Mitgliedsstaaten sollen Flüchtlinge besser unter sich aufteilen. Kein Wunder also, dass das Land fest an Deutschlands Seite steht, in dieser Frage zumindest. Bereits im Februar hatten Kanzlerin Angela Merkel und der schwedische Ministerpräsident Stefan Löfven über eine gemeinsame Flüchtlingsstrategie gesprochen. Am Dienstag ist er wieder in Berlin - Thema Flüchtlinge. Es sei beschämend, dass sich manche Länder weigerten, mehr zu tun. "Wir wollen jetzt ein starkes Bekenntnis in Europa, dass alle Länder Verantwortung für Menschen übernehmen, die vor Krieg fliehen", sagt der Ministerpräsident. "Ich habe das Privileg, Premierminister eines Landes zu sein, das ein hohes Level an Vertrauen in dieser Frage genießt. Schweden tut viel."

Das Land hat nach Deutschland in Europa bisher die meisten Flüchtlinge aufgenommen. 81 301 Menschen haben 2014 in Schweden Asyl beantragt. Über 39 905 Asylanträge hat das Land im vergangenen Jahr entschieden, in knapp acht von zehn Fällen positiv. Die Offenheit stellt das Land allerdings vor ein Dilemma. "Wir wollen eine großzügige Flüchtlingspolitik, aber wir können auch nicht alle unterbringen", sagt Außenministerin Margot Wallström. Deshalb wirbt sie weiter unverdrossen für eine EU-weite Quote: "Es ist wichtig, dass wir uns jetzt einigen." Schweden möchte aber eigentlich mehr erreichen als ein Quotensystem. Es möchte prüfen, wie Flüchtlinge ganz legal nach Europa gelangen können - damit sie nicht mehr auf Schlepper angewiesen sind. Silke Bigalke

Italien

Die Italiener fühlten sich lange Zeit allein gelassen mit der Flüchtlingsfrage. Ignoriert in ihren Sorgen. Und missverstanden wegen ihrer Hilfsoperation Mare Nostrum, mit der Zehntausende Hoffnungsreisende vor dem Tod im Mittelmeer gerettet wurden. Missverstanden auch von Deutschland. Erst die Tragödie in Österreich, so sind die Italiener nun überzeugt, habe die Deutschen so richtig geweckt - diese 71 toten Flüchtlinge in einem Laster im Burgenland, gewissermaßen vor der Haustür.

"Bis dahin", sagt etwa Außenminister Paolo Gentiloni, "herrschte in Europa die Wahrnehmung vor, das Phänomen betreffe nur Italien und Griechenland." Ähnlich äußert sich Premier Matteo Renzi: "Im übrigen Europa entdecken sie das Problem der Immigration erst heute, da sie selbst auch betroffen sind, obschon wir seit Monaten mit Nachdruck darauf hinweisen." Mit "sie", so ist sich die Zeitung La Repubblica sicher, meint Renzi vor allem Angela Merkel und François Hollande. "Der grässliche Tod im Laster", schreibt auch der Corriere della Sera, habe sich "mitten in der germanischen Welt" zugetragen und eben nicht draußen im Mittelmeer, als "externe Fatalität". Merkel, so das Blatt, bleibe nun gar nichts anderes übrig, als ihre Führungsrolle in Europa auch in diesem Dossier wahrzunehmen. Oliver Meiler

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: