Österreichischer Grenzort Nickelsdorf:Jeder ist willkommen

A young migrant child plays with a European Union flag after crossing the Austrian border in Nickelsdorf

Ein Flüchtlingskind schwenkt eine EU-Flagge im österreichischen Grenzort Nickelsdorf.

(Foto: REUTERS)
  • Im österreichischen Grenzort Nickelsdorf haben sich Behörden und Hilfsorganisationen über Nacht auf die Ankunft Tausender Flüchtlinge vorbereitet.
  • Die Aufnahme der Menschen verläuft überraschend reibungslos - dank generalstabsmäßiger Organisation.
  • Der ungarische Regierungssprecher bestreitet, dass Ungarn gezielt Flüchtlinge aus dem ganzen Land weiterschicke.

Von Cathrin Kahlweit, Nickelsdorf

Ausnahmezustand am Grenzübergang in Hegyeshalom, Ausnahmezustand in Nickelsdorf an der österreichisch-ungarischen Grenze. Im Minutentakt fahren Busse mit Budapester Kennzeichen auf dem riesigen Parkplatz an der ungarischen Seite der Grenze vor. Frauen, Kinder, Babys, Männer mit riesigen Taschen steigen eilig aus und prallen erst einmal auf eine Mauer aus ungarischen Polizisten. Die machen eine einzige Handbewegung: los, los, nach links, dort geht es weiter, dort geht es nach Österreich.

Auf einem kleinen Fahrweg ziehen die Gruppen entlang durch das Niemandsland an der Grenze, willkommen geheißen von Dutzenden Helfern mit Kuscheltieren, Bananen, Brot und vor allem warmen, trockenen Decken. Warme, trockene Decken - das ist an diesem Samstagmorgen in Ost-Österreich ein besonders begehrtes Gut, denn die Menschen, die hier mit Bussen ankommen, haben entweder entlang der Autobahn von Budapest nach Wien im Freien und im Regen übernachtet, oder seit Tagen am Budapester Bahnhof Keleti campiert.

Eine Pause von der Hektik

Auf der österreichischen Seite der Grenze warten Hilfsorganisationen und Ärzte, und vor allem: wiederum Busse. Ein Fernreiseunternehmen schickt Doppeldecker, die in Minutenschnelle wieder gefüllt sind und vom Parkplatz herunterrollen, diesmal gen Westen, Richtung Nickelsdorf. Und damit Richtung Wien. Was wie komplettes Chaos wirkt, ist gut organisiert; Behörden und Hilfsorganisationen hatten sich auf die Ankunft der ersten Busse vorbereitet, seit gegen Mitternacht die Nachricht gekommen war, dass die Grenzen einmal mehr für Flüchtlinge geöffnet werden.

"Sechs mal täglich in zwei einviertel Stunden nach Graz" steht auf den Fernbussen, die die Ankömmlinge von der Grenze weitertransportieren an den kleinen Nickelsdorfer Bahnhof. So hektisch und verzweifelt an der Grenze noch in die Busse gedrängelt wird, weil viele Flüchtlinge Angst haben, nun hier, auf dem riesigen, nassen, rasch vermüllten Parkplatz zu stranden, so diszipliniert geht es dann auf der weiteren Reise zu.

Ein Dolmetscher aus Wien, der Arabisch spricht und sich am frühen Morgen auf den Weg an die Grenze gemacht hatte, erklärt die Reaktionen: "Viele hier fühlten sich von den ungarischen Behörden sehr schlecht behandelt, ja veräppelt. Immerhin hatte es am Donnerstag geheißen, es gingen Züge an die Grenze, und dann stimmte das gar nicht. Nun sind die Menschen misstrauisch, dass es ihnen wieder so ergeht."

Langsam weicht die Angst

Tatsächlich ist dieser Tag generalstabsmäßig organisiert. Die Österreichischen Bundesbahnen haben Regional- und Sonderzüge nach Nickelsdorf geschickt, und auch jene Züge, die eigentlich nicht dort halten, machen einen Sonder-Stopp in dem kleinen Dorf. Dort bilden sich lange Schlangen für den Einstieg in die Züge nach Wien und Salzburg; langsam weicht die Angst, nicht anzukommen, wieder irgendwo auf der langen Reise hängenzubleiben, der Zuversicht, dass diesmal alles klappt. Das die Reise wirklich bald ein Ende haben könnte.

Migrants wait for buses after crossing Austrian border in Nickelsdorf

Ein österreichischer Grenzbeamter mit Asylsuchenden, die in Nickelsdorf auf die Weiterreise warten.

(Foto: REUTERS)

Wer nicht weiterreisen will, wer zu erschöpft ist, wird in einer großen Halle in Nickelsdorf untergebracht; dort waren in der Nacht Feldbetten aufgestellt worden. Knapp hundert Flüchtlinge haben dort Zuflucht gesucht, wollen erstmal ausruhen, zu sich kommen. Aber die allermeisten wollen ihre Chance nutzen und weiter über Wien und Salzburg nach Deutschland.

Spekulation um Flüchtlingszahlen

3000 Flüchtlinge seien seit den frühen Morgenstunden angekommen, sagt der burgenländische Polizeichef Hans-Peter Doskozil, etwa 7000 weitere würden noch erwartet. Mehr als hundert Busse sollen die Ungarn losgeschickt haben; Budapest ist ganz offensichtlich froh um jeden, den es loswird. Und so wird in Österreich derzeit gemutmaßt, dass weit mehr Flüchtlinge auf den Weg gebracht wurden als jene, die an den Budapester Bahnhöfen warteten und jene, die sich am Freitagnachmittag als Treck der Verzweifelten auf der Autobahn auf den Weg nach Österreich gemacht hatten.

Was Ungarns Regierung sagt

Der ungarische Regierungssprecher Zoltan Kovacs sagte der Süddeutschen Zeitung, Budapest habe exakt 104 Busse aus Budapest und von der Autobahn an die Grenze geschickt. Es sei aber allgemein bekannt, dass sich überall in der Hauptstadt und im Land Tausende Flüchtlinge aufhielten, die womöglich ebenfalls zur Grenze streben würden. Woher die österreichische Polizei die Zahl von insgesamt etwa 10 000 zu erwartenden Flüchtlinge habe, könne er nicht sagen, sicher sei aber, dass die ungarische Regierung dafür keine Verantwortung trage.

Unterdessen schäumt Polizeichef Doskozil in Nickelsdorf, weil die Kooperation und der Informationsaustausch mit der ungarischen Polizei "miserabel" sei. Es gebe kaum Kontakte, keine Absprachen. So hätte man den Ungarn gern mitgeteilt, heißt es bei der österreichischen Polizei, dass sie die vollen Busse doch gleich nach Nickelsdorf hineinfahren sollten, damit die Menschen nicht im strömenden Regen durch das Grenzgebiet laufen und dann mühsam wieder in Bussen zur nächsten Bahnstation gebracht werden müssen. Aber auf der anderen Seite sei niemand zu sprechen gewesen.

Telefonate zwischen Wien, Berlin und Brüssel

Trotzdem war hinter den Kulissen natürlich viel geredet worden: Nachdem die Regierung unter Premier Viktor Orbán am Freitagabend angekündigt hatte, man werde die Flüchtlinge, die unbedingt nach Deutschland wollten, nicht aufhalten, sondern sogar zur Grenze fahren, hatte es hektische Telefonate zwischen Wien, Berlin und Brüssel gegeben. Gegen Mitternacht dann die Nachricht: Österreich und Deutschland machen die Grenzen auf. Das sei eine "Notsitation", so der österreichische Kanzler Werner Faymann, man dringe aber trotzdem darauf, dass Ungarn seine Verpflichtungen im Rahmen des Dublin-Abkommens weiter erfülle.

Das mag in Zukunft gelten, wenngleich selbst das mit jedem Tag unwahrscheinlicher wird. An diesem historischen Samstagmorgen in Nickelsdorf gilt: Jeder ist willkommen.

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