Satiremagazin "Le Canard enchaîné":Die angekettete Ente wird 100

French Junior minister in charge of Expatriates and Francophone issues Benguigui attends the questions to the government session at the National Assembly in Paris

Kein Witz: Der Canard enchaîné gehört auch für französische Politiker wie Yamina Benguigui zur Pflichtlektüre.

(Foto: Charles Platiau/Reuters)

"Le Canard enchaîné" steht in jener Tradition der Respektlosigkeit, die zum Lachen bringt. Vor 100 Jahren erschien die beliebte Satirezeitung zum ersten Mal.

Von Joseph Hanimann

Zum Gratulieren ist es zu früh, doch hinhalten darf man die Hand schon einmal zum Gruß. Vor genau hundert Jahren, am 10. September 1915, erschien die erste Nummer der französischen Satirezeitung Le Canard enchaîné. Zum Gratulieren zu früh, weil auf die Erstlingsnummer erst einmal nicht viel folgte, die Zeitung wurde bald wieder eingestellt, weil die Gründer sich über das Konzept nicht einig werden konnten - und am 5. Juli 1916 noch einmal neu gegründet, was die Redaktion im kommenden Jahr auch groß feiern will.

Mit seinem für französische Gewohnheiten ungewöhnlich großen Format, seinem im Gegensatz dazu fitzelig kleinteiligen Layout aus Karikaturen und Texten sowie einer Ente mit Schlips als Symboltier auf der Titelseite gehört das Blatt zu den originellsten Erscheinungen der modernen europäischen Zeitungskultur. Das Wort "Canard", Ente, ist ein französischer Populärausdruck für Zeitung; der Name Le Canard enchaîné, die angekettete Ente, spielte damals, während des Ersten Weltkriegs, auf die Zeitung L'Homme enchaîné des rührigen Politikers und Publizisten Georges Clemenceau an, die mehrfach beschlagnahmt wurde.

Mit Humor gegen Kriegspropaganda

Die Gründer des Canard, das Anarchistenpaar Maurice und Jeanne Maréchal, wollten humoristisch gegen die Kriegspropaganda angehen und spotteten über so ziemlich alles: das Militär, die Kirche, die Politiker und all jene, die fern von der Front mit großen Worten und fremdem Blut Krieg führten. So fand das Blatt während des Krieges und danach gerade bei den Frontsoldaten Anklang und brachte noch lange die kriegsmüde Stimmung vieler Franzosen zum Ausdruck.

Pazifistische Schriftsteller wie Anatole France, Tristan Bernard, Jean Cocteau oder Roland Dorgelès gehörten schon früh zu den Autoren. Auch den "Führer des Tausendjährigen Reichs", Adolf Hitler, zog die Zeitung lieber durch den Ententeich des Spotts als auf den harten Boden der politischen Realität - bis es zu spät war: Nach der französischen Niederlage 1940 stellte der Canard sein Erscheinen bis 1944 ein.

Für die Franzosen würde der Krieg erst dann vorbei sein, wenn sie den Canard enchaîné wieder lesen könnten, soll der Résistance-Kämpfer Pierre Brossolette gesagt haben. Tatsächlich hatte der Canard in den ersten Nachkriegsjahren seine wohl besten Zeiten, mit einer halben Million Auflage. Dank seiner Kunst der Anspielung, der Scheinzitate und falschen Dementi entging er auch während des Algerienkriegs in den Fünfzigerjahren und Anfang der Sechzigerjahre geschickt der Zensur. Das Satireblatt steht in jener französischen Tradition des Lachens, die auch der groben Respektlosigkeit aufklärerische Wirkung zuschreibt und die später in anderen Satireblättern wie Charlie Hebdo weiter gepflegt wurde.

Satiremagazin "Le Canard enchaîné": Der Journalist Pierre Pan deckte im Jahre 1984 für Le canard enchaîné den Millionen-Betrug des großen Ölunternehmens Elf Aquitaine auf.

Der Journalist Pierre Pan deckte im Jahre 1984 für Le canard enchaîné den Millionen-Betrug des großen Ölunternehmens Elf Aquitaine auf.

(Foto: AFP)

Setzt Charlie Hebdo aber mit Karikaturen allein auf Satire, will der Canard auf Information nicht ganz verzichten und watschelt zwischen Enthüllungs- und Satirejournalismus durch Frankreichs Blätterwald. Das macht ihn für Politiker besonders gefährlich. Zwar kann dieses Blatt, das auf Anzeigen komplett verzichtet und allein von den Verkaufseinnahmen lebt, sich keine Reporter oder investigative Journalisten leisten.

Der Canard hat gelernt, sich Zugang zu Informationen zu schaffen

Doch hat es gelernt, sich Zugang zu Informanten in hohen Entscheidungsposten zu verschaffen. Zu den berühmtesten Scoops des Canard gehören die Enthüllungen über die Diamantengeschenke des afrikanischen Diktators Bokassa an den Staatspräsidenten Giscard d'Éstaing oder über die gut bezahlten, fiktiven Studien, die der damalige Pariser Oberbürgermeister Jean Tiberi bei seiner Frau Xavière in Auftrag gab. Allerdings hat das Blatt in den vergangenen Jahren Konkurrenz erhalten, auch Internetmedien wie Mediapart sind jetzt hinter derlei Enthüllungen her.

Dennoch ist es Mittwoch für Mittwoch dieses achtseitige, altmodische Großformat, hinter dem vor den Zeitungskiosken, in der Nationalversammlung und in den Nahverkehrszügen des Landes die meisten Leserköpfe verschwinden. Mit einem digitalen Ententeich sei einstweilen nicht zu rechnen, verkündet die Zeitung selbstbewusst auf ihrer bescheidenen Internetseite: Ihre Sache sei das Informieren und Unterhalten mit Papier und Druckerschwärze - ein altmodisches Geschäft, das die zwei Dutzend Redakteure und Zeichner mit beinahe klassisch anmutenden Ressorts bis hin zum Kreuzworträtsel betreiben.

Die anderen Satireblätter mögen Starschreiber in ihren Reihen haben. Der Canard enchaîne hat Journalisten, die zu den diskretesten und zugleich einflussreichsten des Landes gehören: schlipstragende Strolche, deren seit 100 Jahren nahezu unveränderte Zeitung auch im Jahr 2015 Woche für Woche dreihunderttausend Exemplare absetzt.

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