Dachau:Bedrückende Parallelen

Rupert Neudeck

Rupert Neudeck fischte vietnamesische Flüchtlinge aus dem Meer. Sein Cap-Anamur-Projekt hatte in der Bevölkerung großen Rückhalt.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Vor 40 Jahren rettete Rupert Neudeck Flüchtlinge aus dem Meer - auch heute mahnt er humanitäre Hilfe an

Von Manuel Kronenberg, Dachau

Wir müssen etwas tun, dachte sich Rupert Neudeck, als er im Fernsehen ständig die Bilder der ertrinkenden Flüchtlinge sah. Wie sie sich wie Lemminge in viel zu kleine Fischerboote drängten. Bilder, die in ihm etwas auslösten. Er organisierte ein Schiff, die Cap Anamur, und machte sich auf zum Chinesischen Meer. Dort rettete er mehr als 11 000 "Boatpeople" aus Vietnam, die aufgrund der Armut und der Repressionen der kommunistischen Nachkriegspolitik auf der Flucht waren, und brachte sie nach Deutschland.

"Was tun Sie denn schon gegen das Massenertrinken im Chinesischen Meer?", hatte Neudeck gefragt, als er 1979 in Genf im Büro des Zuständigen saß. "Das war der weltweit Zuständige für Flüchtlinge", erzählt der 76-jährige Neudeck jetzt. Er steht im Adolf-Hölzel-Haus in Dachau und spricht zu etwa hundert Besuchern. Zuständige, sagt Neudeck, muss man um jeden Preis meiden. Damals hatte er ein Gespräch in Genf wegen seines Vorhabens, Flüchtlinge aus dem Chinesischen Meer vor dem Ertrinken zu retten. Das musste er natürlich erst mal mit dem Zuständigen klären. Die Antwort auf seine Frage, erzählt Neudeck, lautete ungefähr so: Das seien ja falsche Flüchtlinge. Die richtigen kommen doch über die Grenze, damit man ein Gespräch mit ihnen führen könne, Daten aufnehmen und so weiter. Auf dem Meer gehe das ja schlecht. Wenn Rupert Neudeck von seinen Erlebnissen erzählt, kommt es einem so vor, als würde sich die Geschichte wiederholen. Brandaktuell und immer noch genauso wichtig wie vor 40 Jahren ist das, was Neudeck zu sagen hat. Da wundert es niemanden, dass der Saal bis zum letzten Stuhl gefüllt ist. "Wir leben in dramatischen Zeiten." Mit starken Worten beginnt Neudeck seinen Vortrag. Und er trifft bei den Besuchern einen Nerv. Neudecks Tatendrang ist ansteckend, sein Optimismus macht Hoffnung. In seinem Vortrag geht es um Menschlichkeit, um Gerechtigkeit, er erzählt aber auch ausführlich von seiner Rettungsaktion im Chinesischen Meer, und davon, was das alles mit der heutigen Flüchtlingssituation zu tun hat. Alle seine Erlebnisse seien heute noch wichtig, sagt Neudeck. Und alle Fragen, die damals aufkamen, stellen sich heute wieder neu: Dürfen wir zusehen, wie Menschen in Not sterben? Natürlich nicht, ist seine klare Antwort. Leider gebe es auch ganz andere, immer wiederkehrende Sätze von Verantwortlichen, wie etwa: "Gutes tun muss seine Grenzen haben", oder: "Wo soll das hinführen, wenn wir immer mehr Menschen retten?"

Aber Neudeck will sich nicht lange mit den Problemen aufhalten. "Deutschland ist immer wieder an der Spitze, wenn es um humanitäre Hilfe geht", sagt er euphorisch. Das habe er schon 1979 gespürt. Damals sei der Rückhalt in der Bevölkerung für sein Projekt enorm gewesen. Er hebt seine zur Faust geballte Hand und sagt: "Die Bereitschaft zur Menschlichkeit ist da!" Im Mittelmeer gebe es schon einige Projekte, die seinem Cap-Anamur-Projekt in nichts nachstehen. So sind auch heute private Rettungsschiffe unterwegs, die dort Flüchtlinge aus dem Meer retten: die Sea Watch von Harald Höppner, ein Rettungsschiff der Organisation " Ärzte ohne Grenzen" oder die von einem Ehepaar finanzierte Phoenix 1.

Genauso wichtig wie das Engagement und die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung ist für Neudeck aber auch das Handeln der Politik. Dass die Menschen gerettet werden, bevor sie den gefährlichen Fluchtweg überhaupt antreten. Europäische Länder sollten Partnerschaften mit afrikanischen Ländern eingehen. Es sollten Ausbildungszentren in Staaten wie Marokko oder Tunesien aufgebaut werden. Denn deswegen kommen die afrikanischen Flüchtlinge, sagt Neudeck. Weil sie eine Ausbildung wollen und Arbeit suchen. Deshalb müsse man beim Aufbau der Staaten helfen.

Auch Neudeck selbst ist schon auf der Flucht gewesen. Damals, als er fünf Jahre alt war, entging er nur knapp einem Unglück. 1945 musste er mit seiner Familie aus Danzig fliehen. Wären sie nicht zu spät am Hafen angekommen, wären sie an Bord der Wilhelm Gustloff gegangen, das Schiff, das dann von einem sowjetischen U-Boot versenkt wurde. "Das war mein Schlüsselerlebnis", sagt Neudeck. Deswegen haben ihn auch die Fernsehbilder der vietnamesischen Flüchtlinge so mitgenommen.

Den Flüchtlingen, die heute jeden Tag bei uns ankommen, können am Ende nur Menschen helfen, sagt Neudeck gegen Ende des Abends. "Verwaltungen und Ämter können kein Trauma aufheben." Diese Menschen suchen nach Sicherheit, und die müsse man ihnen geben, indem man Hilfe leistet. Neudeck ist sich sicher, dass das auch gelingt. Die Zuhörer zeigen sich durch Neudecks Optimismus gestärkt. "Ich habe das Gefühl, dass wir trotz der Vergangenheit wieder stolz sein können. Das gibt mir richtig Hoffnung", sagt eine Besucherin. Einen Rat gibt Neudeck den Zuhörern mit auf den Weg. Wenn man etwas Großes tun wolle, müsse man zwei Arten von Menschen meiden. Erstens: Experten, denn die raten einem von jedem Vorhaben ab, weil es zu gefährlich ist. Und zweitens: Zuständige, die eigentlich gar nicht zuständig sind.

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