Flüchtlinge in München:Routine im Ausnahmezustand

Flüchtlinge in München

Großer Andrang auch am Sonntag am Hauptbahnhof in München.

(Foto: AP)

4000 Menschen kamen bis zum Nachmittag in München an. Jetzt wollen auch vier weitere Bundesländer zusätzlich Flüchtlinge aus Bayern unterbringen. Dass die Wiedereinführung von Grenzkontrollen mehr als eine Verschnaufpause bringt, glauben viele Helfer nicht.

Am Hauptbahnhof hat sich Routine eingestellt. Zug um Zug kommen neue Flüchtlinge an, bis zum späten Nachmittag sind es 4500. Gitter werden geschlossen für eine Schleuse, die die Menschen zur Erstversorgung führt. Draußen warten geduldige Reisende, Neugierige, aber auch Helfer, die Wasser und Spielzeug verteilen. Trotz perfekter Abläufe herrscht hier die einheilige Meinung: München braucht eine Verschnaufpause. "Wir kommen an unsere Grenzen", sagte eine junge Frau, die die Hilfe koordiniert.

Am späten Nachmittag dann die Nachricht: Deutschland führt vorübergehend wieder Grenzkontrollen ein, der Zugverkehr aus Österreich ist vorerst gestoppt. Dass diese Maßnahmen helfen können, glaubt die Helferin nicht. "Die wollen ja alle hierher und werden einen Weg so oder so finden." Ein älterer Herr, der bereits letztes Wochenende geholfen hat, zeigt sich erschüttert darüber, dass noch mehr Menschen kommen. Eine kleine Pause könne die Grenzschließung bringen. Mehr nicht.

Unter den Münchnern kommen auch immer mehr Diskussionen darüber auf, dass die Menschen überhaupt hierher kommen. "In Österreich werden sie doch nicht schlecht behandelt", sagt eine ältere Dame. Angesichts der mangelnden Aufnahmbereitschaft anderer Bundesländer findet sie die Grenzschließung richtig. Der Druck müsse raus.

Viele Flüchtlinge haben bereits Familienangehörige in Deutschland - deswegen wollen sie nicht in Österreich bleiben. Auf dem Münchner Hauptbahnhof gibt es immer wieder ergreifende Szenen des Wiedersehens. Ein syrischer Student ist aus Dortmund angereist, um seine Familie in Empfang zu nehmen. Er steht an dem Gitter und wartet. Plötzlich stürmt ein kleines Mädchen auf ihn zu, seine Schwester. Er kann nicht aufhören sie küssen, Tränen laufen ihm übers Gesicht. Auch seine Mutter und sein Vater sind heute mit dem Zug angekommen. Acht Monate lang haben sie sich nicht gesehen - jetzt trennt sie nur noch das Absperrgitter. Doch mitnehmen kann er seine Familie nicht. Nach dem Gesundheitscheck werden sie in Busse oder Züge geschafft. Wo die hinfahren, kann auch der dabei stehende Polizist nicht sagen.

Zusätzliche Plätze in Baden-Württemberg, Hessen, Brandenburg und Berlin

Neben Unterkünften in Bayern könnte die Familie des syrischen Studenten auch in anderen Bundesländern unterkommen. Denn mittlerweile haben nach Nordrhein-Westfalen vier weitere Bundesländer angekündigt, Flüchtlinge aus Bayern aufzunehmen. Die deutliche Kritik des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter scheint kleine Erfolge zu zeigen. Insgesamt kann München mehr als 3000 Menschen an andere Bundesländer weiterleiten.

Baden-Württemberg und Hessen wollen jeweils mehr als 1000 Menschen versorgen. "Die Menschen werden jetzt einfach unregistriert mit dem Zug von München nach Frankfurt weitergeschickt", sagte der hessische Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) der Frankfurter Rundschau. Berlin und Brandenburg planen zusätzliche Plätze für 600 Menschen, sagte ein Sprecher des Innenministeriums in Potsdam. Sie sollen am frühen Abend mit einem Sonderzug am Bahnhof Berlin-Schönefeld ankommen.

Am Samstag erreichte die bayerische Hauptstadt die Grenze ihrer Kapazitäten, nachdem 12 200 Menschen an einem Tag angekommen waren. Die Bundesregierung reagiert am Sonntag, indem sie an der Grenze zu Österreich temporär wieder Kontrollen einführt. Die Münchner Polizei begrüßt das. "Es erhöht die Sicherheit, wenn an der Grenze die Flüchtlinge registriert werden", sagt Polizeisprecher Werner Kraus.

Oberbürgermeister Reiter hatte sich beklagt, dass er die Unterstützung der anderen Bundesländer vermisse. Einzig Nordrhein-Westfalen habe bis Sonntag jeden Tag angerufen und versucht, seine eigenen Aufnahmekapazitäten zu erhöhen, sagte der Bürgermeister. Am Sonntagmorgen verlässt so ein Zug mit 500 Flüchtlingen München in Richtung Dortmund - wo er am Mittag von Oberbürgermeister Ulrich Sierau in Empfang genommen wird.

Reiter bedauerte zudem, dass er selbst keine Möglichkeit habe, die so bitterlich benötigte Hilfe weiterer Bundesländer zu erzwingen - dazu müssten der bayerische Ministerpräsident oder Innenminister oder die Bundesregierung den Katastrophenfall ausrufen.

Regulärer ICE bringt Flüchtlinge nach Berlin

Am Vormittag startete ein ICE mit 650 Flüchtlingen nach Berlin. Ein Novum - erstmals setzt die Deutsche Bahn einen regulären Zug zum Weitertransport von Flüchtlingen ein. Bisher hatten nur Sonderzüge Flüchtlinge transportiert. Betroffen ist der ICE um 11.21 Uhr ab München in die Hauptstadt. Die gebuchten Passagiere der Verbindung hätten auf andere Züge umsteigen müssen, erklärt Christoph Hillenbrand, Präsident der Regierung von Oberbayern.

Die Tickets der Reisenden sind für alle Züge auf der gebuchten Strecke gültig, sie verteilen sich auf die nachfolgenden Verbindungen. Zwei Stunden später warteten nur noch wenige. Eine von ihnen war Helga Netzker, kurze graue Haare, rosa T-Shirt, Gehstock. Sie habe sich einfach einen Kaffee geholt und die Wartezeit am Bahnhof verbracht, sagte sie. Nun hofft sie, dass mit dem Zug, auf den sie ausweicht, alles klappt. "Ich habe Verständnis, dass das jetzt nötig ist. Aber wenn man selbst betroffen ist, macht es einem natürlich was aus", räumte sie ein.

Flüchtlinge in München: HBF München Flüchtlinge.Isomattensammelaktion der ehrenamtlichen Helfer am Elisenhof.Nach einem abendlichen Aufruf im Internet brachten die Münchner am Samstag abend Isomatten und Decken für die Flüchtlinge die im Freien oder am Bahnhof übernachten mussten. Foto:Catherina Hess

HBF München Flüchtlinge.Isomattensammelaktion der ehrenamtlichen Helfer am Elisenhof.Nach einem abendlichen Aufruf im Internet brachten die Münchner am Samstag abend Isomatten und Decken für die Flüchtlinge die im Freien oder am Bahnhof übernachten mussten. Foto:Catherina Hess

(Foto: Catherina Hess)

Ihr Zug fährt dann beinahe planmäßig um 13.30 Uhr ab. Kurze Verwirrung gibt es, weil die Wagennummern vertauscht sind. Die Reisenden hetzen von einer Seite des Bahnsteigs zur anderen. "Eine völlige Lappalie, verglichen mit dem, was bei den Flüchtlingen drüben gerade passiert", sagt ein Mann mit Blick auf den Starnberger Flügelbahnhof. Er hat gerade seine Frau zum Zug gebracht.

Ähnlich sieht das der Präsident der Regierung von Oberbayern: Hillenbrand spricht von "humanitär gekaperten Regelzügen - natürlich in Absprache mit der Deutschen Bahn". Man werde künftig einzelne Regelzüge komplett für den Flüchtlingstransport verwenden, zudem aber auch Regelzüge nur teilweise mit Gruppen von Flüchtlingen belegen. Welche Züge konkret davon betroffen sein werden, könne er jetzt noch nicht sagen. Es sei Aufgabe der Bahn, die Reisenden davon in Kenntnis zu setzen.

Am Sonntagmorgen heißt es gerüchteweise am Bahnhof, die Flüchtlingszüge seien angehalten beziehungsweise umgeleitet worden, bis München weitere Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen habe. Eine neue Zeltstadt für mehr als 6000 Menschen wurde noch in der Nacht zum Sonntag fertig. Auch eine vorübergehende Nutzung der Olympiahalle steht nach wie vor um Raum. Im mittelfränkischen Roth wird außerdem eine Kaserne mit etwa 1000 Plätzen hergerichtet.

63 000 Flüchtlinge in München seit Ende August

Aus Österreich wird gemeldet, dass stündlich etwa 500 Menschen die Grenze zu Ungarn überquerten, die österreichische Polizei rechnet am Sonntag mit 5000 bis 6000 Asylsuchenden.

Für München geht die Herausforderung also weiter - und Hillenbrand sieht die Stadt nach der Krise vom Samstag wieder gewappnet. "Damit sind wir wieder vor der Lage", sagt er am Sonntagmittag. Seit Ende August hat die bayerische Landeshauptstadt 63 000 Flüchtlinge empfangen und versorgt.

Landesinnenminister kritisieren Merkels Alleingang

Anstatt aktiv zu werden - wie von Münchens Oberbürgermeister Reiter gefordert -, schimpfen deutsche Politiker lieber auf die Kanzlerin. Mehrere Landesinnenminister hätten in vertraulichen Telefonkonferenzen bemängelt, dass die Länder von Merkels großzügiger Einreiseerlaubnis für Flüchtlinge ohne jede Abstimmung "überrumpelt" worden seien, berichtet die Welt am Sonntag. Die Ressortchefs warnten vor Chaos bei der Unterbringung der Flüchtlinge und vor Sicherheitsrisiken. "Die Länder sind völlig überrascht worden von der Einreiserlaubnis der Kanzlerin", sagte der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Roger Lewentz (SPD).

"Wir hätten Zeit für Vorbereitungen gebraucht. Und wir hätten vorher davon wissen müssen." Die Länder seien "in großer Not, weil sie bei der Unterbringung von Flüchtlingen am Limit sind". Ein anderer Landesinnenminister erklärte dem Blatt zufolge: "Die Länder befinden sich in einem Ausnahmezustand, der schnellstens beendet werden muss." Die Landesinnenminister hätten zudem in den Telefonkonferenzen mit Vertretern des Bundes gemahnt, dass "Sicherheitsfragen nicht ignoriert werden dürfen". Es bestünde die Gefahr, dass auch "Gefährder" - wie es der Politiker ausdrückt - einreisen und nicht registriert werden könnten.

Pro Asyl warnt vor "riesigen Internierungslagern" an EU-Außengrenzen

Merkel forderte ihrerseits am Samstag die EU-Mitgliedsstaaten auf, die Außengrenzen Europas besser zu schützen. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sieht solche Forderungen indes kritisch. Vor dem Sondertreffen der EU-Kommission warnte Pro Asyl davor, "riesige Internierungslager" an den Außengrenzen der EU einzurichten. Das Konzept der EU-Kommission zu sogenannten Brennpunkt-Zentren in stark belasteten Ankunftsländern werde dazu führen, "dass Zehntausende eingesperrt werden", sagte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. Ein solches Vorgehen sei "eine grobe Verletzung der Menschenrechte" und werde nur dazu führen, dass weiter Tausende versuchen würden, über illegale Wege nach Europa zu kommen.

Die EU baut derzeit Brennpunkt-Zentren in Italien und Griechenland auf. Dort sollen Flüchtlinge mit Hilfe von EU-Beamten identifiziert und registriert werden und Asylanträge stellen können. Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge sollen mit Unterstützung der EU-Grenzbehörde Frontex abgeschoben werden.

Medienbericht: In diesem Jahr bereits 2336 Schleuser festgenommen

Seit Jahresanfang sind in Deutschland einem Medienbericht zufolge bereits mehr als 2300 Schleuser festgenommen worden. Bis zum 8. September seien 2336 Schleuser und damit 40 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum festgenommen worden, berichtete die Bild am Sonntag unter Berufung auf das Bundesinnenministerium. Die meisten Festgenommenen kamen demnach aus Ungarn (256), Rumänien (207), Syrien (184), Bulgarien (116) und Serbien (113).

Mit Informationen von SZ-Reportern vor Ort.

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