Insel Helgoland:Dorf im Meer

Ausflügler auf Helgoland

Ausflügler am Strand der Düne Helgoland (Archivbild).

(Foto: picture-alliance/ dpa)

1500 Einwohner, keine Autos und eine bewegte Geschichte: Helgoland ist Deutschlands einsamste Insel. Und das ist nicht die einzige Besonderheit.

Von Peter Burghardt

Ein Mann am Meer, wie gemalt für Helgoland. An einem frischen Nachmittag sitzt Rolf Blädel im Windschatten der Landungsbrücken, mit grauem Seemannsbart, schwarzer Kappe und dem wortkargen Humor der Friesen. Neben ihm lehnt sein Fahrrad und sitzt sein Hund, eine Brise kräuselt die Wellen. Windstärke 5, kein Problem. Früher hat Rolf Blädel, 63, auf Deutschlands einsamster Insel die Menschen bewacht, jetzt kümmert er sich um die Tiere, aber natürlich beschäftigen ihn beide. Manchmal fragt er sich, wie es weitergeht mit seiner winzigen Wahlheimat, an der bis zum Zerbersten die Natur gerüttelt hat, der Krieg, der Tourismus, neuerdings das Geschäft mit dem Wind.

Blädel schaut rüber zur Nebeninsel, der famosen Düne, mit ihren Stränden, Seehunden und Kegelrobben, er war gerade dort. Erosion und Sturmflut haben die Düne vor Jahrhunderten vom roten Felsmassiv gerissen, gemeinsam sind die beiden Teile Helgolands überschaubare 1,7 Quadratkilometer groß. Und im Wasser liegen wie jeden Tag der Halunder Jet aus Hamburg und die gemächlichen Bäderschiffe, auf denen die Tagesgäste gleich wieder heimwärts schaukeln: die Funny Girl Büsum, die Fair Lady Bremerhaven, die Atlantis Cuxhaven, die Lady von Büsum.

Fast wie immer. "Bloß gab es hier früher 25 oder 30 Börteboote", brummt Blädel. Die Börteboote sind jene Holzkähne, mit denen die Passagiere von Bord an den Kai und zurück gebracht werden. "Ausbooten" nennt sich das, ein Helgoländer Ritual. Von Windstärke 6 an wird der ganze Trip zum Abenteuer. Der Betrieb begann 1826, als dieser Vorposten zum Seebad ernannt wurde, 62 Kilometer nordwestlich der Elbmündung. Schon Heinrich Heine genoss nach oft bewegter Überfahrt die pollenfreie Luft. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben dichtete 1841 auf Helgoland das Lied der Deutschen, die spätere Nationalhymne. Seine Büste steht am Hafen. Seinerzeit war Helgoland britisch, 1890 schwatzte Kaiser Wilhelm dann London den Stützpunkt ab - übrigens trotz der schönen Legende nicht im Tausch gegen Sansibar, das die Deutschen ja nie besaßen. Seit 125 Jahren gehört Helgoland zum Landkreis Pinneberg in Schleswig-Holstein, kürzlich wurde Jubiläum gefeiert.

Rolf Blädel wiederum landete vor 36 Jahren auf diesem Sandstein - als Polizist. Damals trafen jeden Vormittag bis zu zehn Bäderschiffe ein, manchmal 8000 oder 9000 Gäste auf einen Schlag, 800 000 im Jahr. Sie stiegen aus Riesen wie der Roland von Bremen und der Wappen von Hamburg, die nachher Alte Liebe hieß. Frachter schleppten tonnenweise staatlich subventionierte Butter herbei, die Touristen in Plastiktüten zurücktrugen, dazu Duft, Zigaretten und Schnaps. Helgoland war "die Fuselinsel", Bastion von Butterfahrt und Wirtschaftswunder. Bizarre Zeiten. Und jetzt?

Noch immer ist die kleine Inselgruppe von der Mehrwertsteuer befreit, auch wenn das Brüssel missfällt. Noch immer füllen Alkohol, Tabak und Parfüm die Regale. Kubanische Zigarren neben Single Malt und Großpackungen Tic-Tac, wie in der Main Street von Gibraltar. Aber Kaufrausch und Andrang haben nachgelassen. 2014 waren es noch 320 000 Besucher.

Immerhin 70 000 Urlauber blieben über Nacht auf Helgoland, diesem Gegenentwurf zum Jetset-Sylt: im Hotel Rickmers Insulaner, im Bellevue, Hüs Weeterkant, Hochseeinsel oder Haus am Meer. Jenseits der Ferien treffen sich dort bevorzugt Rentner. Die meisten Reisenden aber verbringen hier wie gehabt fünf Stunden zwischen Ankunft und Abfahrt und machen die übliche Tour: Lange Anna, Lummenfelsen an der Steilküste, Hummerbuden, einmal die Einkaufsstraße rauf und runter, vielleicht ein Museum. Davor und danach ist es herrlich still. "In fünf Stunden werden Sie der Insel gar nicht gerecht", findet der Tourismusdirektor Klaus Furtmeier, der aus Garmisch-Partenkirchen kam und versichert, die Luft sei auf Helgoland noch besser als auf der Zugspitze. "Sie brauchen vier oder fünf Tage für das Inselfeeling." Einige Attraktionen des Inselfeelings dösen in Blädels Revier.

"Wir sind sehr weit draußen, das fördert die Demut"

Es sind die Seehunde und Kegelrobben, die sich drüben auf der Düne wieder erfreulich vermehren. Ihre Zahl übertrifft schon fast die der Einwohner Helgolands, die bei etwa 1500 liegt, Babys werden mangels Hebammen im örtlichen Krankenhaus nicht mehr entbunden. Bei der Polizei entsorgte Blädel auch Kadaver von Tieren, dann wurde er Robben- und Seehundhüter im Naturschutzgebiet. Manchmal rufen sie ihn aus dem Tower des Flugplatzes, damit er mit einem Schaufelbagger Jungtiere von der Piste holt. Die meisten Weibchen kommen nur zur Wurfsaison im Winter und haben ihre festen Plätze. Einige erkennt er. Eine habe eine Zeichnung wie einen beigen Schmetterling auf dem Rücken, eine andere am Hals ein Muster wie ein silbernes Reh - "also mit Fantasie", sagt Blädel. Seine Nachfolger in Uniform fahren im E-Golf über das autofreie Helgoland, Verbrechen sind eher selten. Gewalt auf Helgoland? "Ja", antwortet Blädel. "1719 hat eine Frau ihrer Nebenbuhlerin eine Mistgabel durch die Kehle gerammt und wurde hingerichtet", ist eine Zeit lang her. "Dann kamen die Nazis."

Helgolands Leuchtturmwärter

Eine Sehenswürdigkeit: Der Leuchtturm von Helgoland.

(Foto: dpa)

Die Nazis. Für diese Tragödie empfiehlt sich eine Expedition in den Untergrund, "die Leute sind ganz verrückt danach", sagt Rolf Blädel, der auch einer der Fremdenführer ist. Interessenten steigen in die feuchten Relikte des Bunkers hinab, der 2700 Zivilisten rettete. Kurz vor Kriegsende am 18. und 19. April 1945 legte Großbritanniens Luftwaffe die Stadt in Schutt und Asche, die Bevölkerung wurde anschließend aufs Festland gebracht. Die Royal Air Force bombte weiter und demolierte letzte Reste der Abwehranlagen 1947 mit der größten nichtnuklearen Sprengung der Geschichte, Helgolands Big Bang. Stehen geblieben sind nur einige Hundert Meter Schutzräume sowie der Leuchtturm, 83 Meter hoch und voller Hightech. Er lotst jährlich 165 000 Schiffe durch die Deutsche Bucht und sichert die Exportwirtschaft.

Helgoland wurde dank seiner Lage ein Hotspot von Küstenschützern, Meteorologen, Ornithologen, Hummerfreunden, Robbenfreunden, Knieperfreunden; Knieper sind Taschenkrebse. "Hummerschere" hieß ein Projekt der Nazis, damals ging es um den Generalumbau zur Flottenzentrale. In der friedlichen Gegenwart kümmern sich das Alfred-Wegener-Institut und letzte Fischer um richtige Hummer. Wobei Rolf Blädel meint, dass über manches aus der Vergangenheit zu wenig gesprochen werde - wer beachtet schon die Stolpersteine für die erschossenen Widerstandskämpfer? Die Helgoländer durften erst 1952 zurückkehren, ein Trauma. Der Wiederaufbau war ein Kraftakt, die verstaubte Architektur der Fünfzigerjahre ist heute denkmalgeschützt. Man kann sie deprimierend hässlich finden oder putzig museal.

Die Insel ist wie ein Dorf: Es gibt immer Tratsch, man ist nie allein. Manche mögen das

"Wie schnell das alles ging", sagt Birgit Krüss in ihrer hellen Wohnung im Helgoländer Oberland, 184 Stufen oder eine Aufzugfahrt über dem Unterland. Ihr inzwischen verstorbener Mann kümmerte sich als Kapitän um die Versorgung und war der jüngste Bruder des grandiosen Kinderbuchautors James Krüss. Der kam hier 1926 zur Welt, seine Reste wurden nach der Einäscherung 1997 auf Gran Canaria vor seinem Geburtsort im Meer bestattet. Krüss erfand wunderbare Klassiker wie "Henriette Bimmelbahn", "Der Leuchtturm auf den Hummerklippen", "Mein Urgroßvater und ich" und "Timm Thaler". Er ist der gute Geist von Helgoland, obwohl er die meiste Zeit in Bayern wohnte und auf Gran Canaria, er hing an seiner kleinen Insel. Seine Schwägerin verkauft seine Bücher in ihrem Modeladen und drückt sein Siegel ins Papier. Eine Helgoländer Kita und eine Schule sind nach Krüss benannt, ein anderer Kindergarten heißt "Windstärke 12".

Frau Krüss schaut aus dem Fenster Richtung Nordsee. "Diese Insel ist einmalig, wie ein Schiff im Meer", sagt sie. "Eine unglaubliche Stimmung." Sie hat auch eine Wohnung in Hamburg, aber alt werden will sie auf Helgoland, "hier bist du nie allein. Wie auf dem Dorf, mit Tratsch und Klatsch. Meine Nachbarin wurde 100."

Im Rathaus sitzt Jörg Singer und erzählt, wie er wieder am Ort seiner Jugend gelandet ist. Singer stammt aus Konstanz, wuchs ein paar Jahre in Helgoland auf und hat dann als Unternehmer weit weg Karriere gemacht. Vor ein paar Jahren wagte er sich mit seiner Familie zurück, seit 2010 ist er Bürgermeister. "Komplette Entschleunigung", sagt Singer. "Wir sind sehr weit draußen, das fördert die Demut." Sein Vorstoß, die Düne durch aufgeschüttetes Land wieder mit der Insel zu verbinden, scheiterte an einem Volksentscheid. "Die Helgoländer wurden zweimal vertrieben, ihr Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung ist besonders groß", erläutert Singer. "Wir sind ein stolzer Fels in der Brandung, ohne Status und Hierarchie."

Einen Masterplan zur Modernisierung hat der Wirtschaftsingenieur und heutige Bürgermeister trotzdem. Auf seinem Schreibtisch stehen ein Miniaturwindrad und ein Schild mit dem Wortspiel "Meer Jobs". Die Konzerne RWE, Eon und WindMW haben vor Helgoland drei mächtige Offshore-Windparks ins Meer gestellt, mit Bürohäusern am Hafen, wo abends die Techniker in Leuchtkleidung von den Schiffen steigen.

Rolf Blädel, der vom Polizisten zum Wächter über Robben und Seehunde wurde, hat nichts gegen Windparks. "Lieber ein paar Windräder als ein zweites Tschernobyl", so sieht er das. "Aber das Wichtigste sind unsere Gäste, von Offshore allein können wir nicht leben." Dann nimmt er sein Fahrrad und seinen Hund und geht zum Nordoststrand, wo ihm ein toter Seehund gemeldet wurde. Er mag die Tiere, er mag Helgoland. "Ich fahr' nicht freiwillig zum Festland", sagt er. "Was soll ich da."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: