Merkel zur Flüchtlingsdebatte:Der seltene Gefühlsausbruch der Kanzlerin

German Chancellor Merkel looks on at a news conference at the chancellery in Berlin

"... dann ist das nicht mein Land."

(Foto: REUTERS)

"... dann ist das nicht mein Land." Aus dem Mund einer Regierungschefin ist das ein erschreckender Satz. Er zeigt eine Verletztheit, die kaum ein Politiker gern zu erkennen gibt, schon gar nicht Angela Merkel.

Kommentar von Gustav Seibt

Zur konventionellen Staatsklugheit gehört es, dass die Regierenden sich grundsätzlich im Einklang mit ihrem Land zeigen. Der Monarch behauptet dann: "Der Staat bin ich." Demokratisch gewählte Regierungschefs tun viel dafür, um den Eindruck zu befestigen: "Ich bin einer oder eine von euch." Die historisch nicht verbürgte Gegenprobe soll der letzte König von Sachsen nicht zufällig erst bei seiner Abdankung nach der Novemberrevolution 1918 formuliert haben: "Macht euren Dregg alleene."

Der Satz, mit dem sich Angela Merkel am Dienstag gegen ihre Kritiker verteidigte, verdient in allen seinen Teilen ernst genommen zu werden: "Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land." Die Regierungschefin exponiert sich darin zunächst als Person, nicht als Amtsträgerin, darum muss sie das Folgende "ganz ehrlich sagen". Die Entrüstung der beiden folgenden Halbsätze verweist darauf, dass bei der Entscheidung für die Aufnahme der Flüchtlinge ein humanes Minimum zu sichern war.

Die "Notsituation" erreicht den harten Kern der Sache: Zeitdruck, eine unvermeidlich schwierige Wahl. Das "freundliche Gesicht" ist danach eine klassische Antiklimax, eine rhetorische Untertreibung. Denn es ging ja um weit mehr als um ein nettes Lächeln. Es ging beispielsweise darum, dass die Großstadt München in einen Fast-Ausnahmezustand geriet, oder darum, wie Deutschland in der Welt dastehen würde.

"Dann ist das nicht mein Land" - ein bemerkenswerter Satz

Der Schluss des Konditionalsatzes - "dann ist das nicht mein Land" - ist sein bemerkenswertester Teil. Sofort spürbar ist eine Emotionalität, eine Verletztheit, die kaum ein Politiker, schon gar nicht Angela Merkel, gern zu erkennen gibt. Dabei gibt es angesichts des unflätigen, oft sogar drohenden Tons, der inzwischen vor allem in den sozialen Medien gegen Berufspolitiker alltäglich ist, viele Gründe für solche Verletztheit. Wer beim Besuch der Kanzlerin in Heidenau auf die Sprechchöre im Hintergrund achtete, hörte Worte, die sich auf einer Zeitungsseite nur im Ausnahmefall drucken lassen.

Man sollte den Ton der Verletztheit, den Merkel anschlug, also nicht zu persönlich verstehen. Es ging wohl nicht nur um Horst Seehofer. Merkel reagiert auch auf den beunruhigenden Riss, der sich zwischen einer Politik, die es unmöglich allen recht machen kann, und einer enthemmten Wut auftut, die an einfache Lösungen glaubt. "Dann ist das nicht mein Land": Das ist aus dem Mund einer Regierungschefin ein ziemlich erschreckender Satz. Er stellt anheim, er formuliert eine Bedingung. Es gibt auch für Politiker Grenzen des moralisch Zumutbaren. Und: Es gibt Aufgaben, die von den Regierenden allein nicht bewältigt werden können, wenn "das Land" nicht mitmacht. Mit ihrer Aussage nimmt die Bundeskanzlerin die Republik in Haftung. Denn es gibt Wirklichkeiten, die sich nicht einfach wegwünschen lassen. Auch das ist Demokratie.

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