Mittelmeer:Reporter fährt mit Flüchtlingen in einem Boot

Sein Video ist ein einzigartiger und erschreckender Einblick in das tägliche Drama auf dem Mittelmeer.

Von Paul Munzinger

Die Nacht ist hereingebrochen, und Lesbos noch kilometerweit entfernt, als auf dem Boot Stille einkehrt. Der Motor hat die ganze Zeit schon bedenklich gestottert und geröchelt. Er hat den 60 Flüchtlingen Rauch ins Gesicht geblasen, bis sie einander kaum noch erkennen konnten, so eng sie an Bord auch gedrängt sind. Jetzt ist der Motor verstummt, und für kurze Zeit sind es auch die Flüchtlinge.

Nach einigen Sekunden ist die Stille vorbei. Die Flüchtlinge setzen die Notrufe ab, die ihnen zur Verfügung stehen: Erst schicken sie ein vielstimmiges Stoßgebet an Allah. Dann winken sie mit ihren leuchtenden Smartphones, um Schiffe auf sich aufmerksam zu machen, und blasen in die Trillerpfeifen, die an ihren Schwimmwesten befestigt sind. Ein Pfeifkonzert, das in der Nacht verhallt. Weit und breit ist kein Schiff zu sehen.

Das ist der Moment, als der Reporter nicht mehr länger nur Reporter sein kann. Er muss eingreifen. Die Schlepper haben den Flüchtlingen keine Notrufnummer gegeben. Franck Genauzeau hat die Nummer, sein Telefon befindet sich in einer wasserdichten Hülle, über GPS ist er in ständigem Kontakt mit seiner Redaktion. Er benachrichtigt die Rettung.

"Ich bin jemand, der Träume wahrmacht", sagt der Schlepper

Genauzeau, der normalerweise für den französischen Fernsehsender France 2 aus Jerusalem berichtet, ist für eine Reportage in einem Flüchtlingsboot mitgefahren. Start an der türkischen Küste, das Ziel: Lesbos, zehn Kilometer, eine kurze Strecke auf der langen Flucht nach Europa, und doch eine Strecke, die manchmal zu lang ist für die Boote und die Menschen an Bord. Die Bilder, die Genauzeau mitgebracht hat, sind ein wohl bisher einzigartiger und erschreckend authentischer Einblick in den Alltag der Flucht, in das, was sich an Europas Grenzen Tag für Tag abspielt (hier das französische Original-Video).

Die Schlepper waren nicht schwer davon zu überzeugen, ihn mitzunehmen, erzählt Genauzeau später. Zuerst wollten sie Geld, aber dann erklärten sie sich bereit, den Reporter und seine Kamerafrau umsonst mitzunehmen. Weil sie es leid seien, dass Schlepper wie Ganoven hingestellt würden. "Ich bin jemand, der Träume wahrmacht", habe einer von ihnen zu Genauzeau gesagt, "jemand, der Menschen hilft, ihren Traum von Europa zu erfüllen."

24 Stunden haben sich die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak an der türkischen Küste versteckt, ehe die Schlepper ihnen das Zeichen geben. Dann kommen sie aus den Büschen, Männer, Frauen, Kinder, das jüngste keine zwei Monate alt. Die Warnwesten sind bunt und die Blicke ängstlich, als die Flüchtlinge das Holzboot erblicken, das sie übers Meer bringen soll. Doch für Sorgen ist keine Zeit, die Schlepper haben es eilig, und sie haben eine Pistole, um den Flüchtlingen das ohne Worte verständlich zu machen.

2000 Euro für einen Erwachsenen, 1000 Euro für ein Kind

Weil das Boot am Ufer festhängt, müssen einige Flüchtlinge ins Wasser, um anzuschieben. Als das Boot frei ist, geht es los. Ein Schlepper in Badehose ernennt wahllos einen Mann zum Kapitän, erklärt ihm in zwei Gesten, wie er das Schiff steuern soll. Dann verlässt er das Boot mit einem Kopfsprung, am Ufer wird er mit Küsschen begrüßt und zu seinem guten Geschäft beglückwünscht. 2000 Euro kostet die Überfahrt für jeden Erwachsenen, 1000 Euro pro Kind. Die Flüchtlinge sind jetzt auf sich gestellt, ihr Schicksal hängt von einem röchelnden Motor ab. Einem Motor, der den Geist aufgibt, noch ehe die Hälfte der Strecke geschafft ist.

Hilfe ist unterwegs, sagt Genauzeau, nachdem er den Notruf abgesetzt hat, ein bisschen Geduld. Die Rettung kommt dann doch schneller als erwartet. Ein griechisches Fischerboot taucht plötzlich aus der Dunkelheit auf und nähert sich den Flüchtlingen. Hierher, rufen sie, und der Fischer wirft ihnen ein Seil zu. An diesem Seil schleppt er sie bis nach Griechenland. Als sie angekommen sind, klatschen die Flüchtlinge. "Wir haben das Schlimmste hinter uns", sagt einer in die Kamera des Reporters. Der Mann will nach Deutschland und er weiß: Der Weg ist noch lang. Nach dem offenen Meer erwarten ihn jetzt geschlossene Grenzen.

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