Kunsthistorie im Klinikum Freising:Mit Röntgen ins Rampenlicht

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Lange Zeit war der Münchner Landschaftsmaler August Seidel vergessen. Im Klinikum Freising arbeiten ein Chefarzt und ein Raketenforscher mit X-Ray-Strahlen daran, dass sich das wieder ändert

Von Birgit Goormann-Prugger, Freising

Jozsef Balaton, seit 2014 Chefarzt der Radiologie am Klinikum Freising, hat schon viel auf dem Röntgentisch gesehen. Bei einem Kollegen in Traunstein auch schon mal eine mumifizierte Katze aus dem alten Ägypten. Warum also nicht auch alte Kunst? Der gebürtige Ungar röntgt derzeit im Auftrag der Forschungsstelle August Seidel Bilder des Münchner Landschaftsmalers (1820 - 1904), Schüler von Carl Anton Rottman und Wanderfreund von Carl Spitzweg.

August Seidel hat das Bild "Kloster an einem Voralpensee" gemalt. (Foto: Marco Einfeldt)

Von den Aufnahmen erhofft man sich, verborgene Malschichten der Gemälde sichtbar machen zu können. Daraus ließen sich Erkenntnisse über die Malweise des Künstlers gewinnen. Röntgenaufnahmen sind in der Kunsthistorie längst Usus. Vor allem Fälschungen oder Falschzuschreibungen können mit Hilfe der solcher Bilder entdeckt werden. Zu Lebzeiten von August Seidel wurde beispielsweise Bleiweiß verwendet, lichtbeständig und von hoher Deckkraft, aber durch den hohen Bleigehalt auch hochgiftig. Nach dem Tod Seidels wurde es in Künstlerkreisen durch das ungefährliche Titanweiß ersetzt. Auf den Röntgenbildern nun erscheine das Bleiweiß hell, das Titanweiß gräulich, erklärt Jozsef Balaton und ist mit Leidenschaft bei der Sache. Wäre das Titanweiß großflächig auf den Bildern zu sehen, verriete es den Fälscher, einzelne Stellen aber könnten einem Restaurator zugeschrieben werden.

Radiologie-Assistentin Anja Heinrich und Frank Meißner bereiten die Röntgenaufnahme des Bildes "Kloster an einem Voralpensee" vor. (Foto: Marco Einfeldt)

Über einen privaten Kontakt kam die Verbindung zwischen der Forschungsstelle August Seidel und der Radiologie des Klinikums Freising zustande. "Die Ausrüstung dafür haben viele Kliniken, ich habe es eben einfach gemacht. Es interessiert mich, das ist wie Fahndungsarbeit", erzählt Jozsef Balaton, der die Besucher der Forschungsstelle August Seidel in den überaus nüchternen Räumen der Radiologie zum vereinbarten Termin in seiner üblich Krankenhauskluft empfängt, im grünen Kittel. Gründer und Geschäftsführer der Forschungsstelle August Seidel ist Robert Schmucker. Eigentlich lehrt er als Professor an der TU München am Lehrstuhl für Raumfahrttechnik und gilt als international anerkannter Raketenexperte. Seine Leidenschaft aber gehört der Kunst, er ist Sammler "und ich bin ein Ästhet", sagt er über sich selbst. Wissenschaftliche Studien machten doch auch gleich viel mehr her, wenn die Grafiken ansprechend gestaltet seien. Im Schlepptau hat der kunstsinnige Raketenforscher an diesem Donnerstabend in Freising den wissenschaftlichen Leiter seiner 2014 gegründeten Forschungsstelle August Seidel, Frank Meißner, der gerade an der Universität in Würzburg seine Doktorarbeit über den Maler schreibt. Die Bilder des Künstlers hat er für den Transport ganz profan in eine karierte Wolldecke gewickelt. Meißner ist überzeugt davon, dass Seidel in der Kunstwelt völlig unterbewertet ist. Die Qualität seines Gesamtwerkes und seine technische Brillanz stünden in krassem Gegensatz zu seiner heutigen Präsenz in der Öffentlichkeit. Letzte große Präsentationen der Werke von Seidel gab es 1906 auf der Münchner Glaspalastausstellung, bei einer Einzelausstellung 1914 in der Galerie F. X. Weizinger und bei einer Retrospektive aus Anlass seines 100. Geburtstags 1920 beim Münchner Kunstverein.

Robert Schmucker und Jozsef Balaton diskutieren das Ergebnis am Bildschirm. (Foto: Marco Einfeldt)

"Jetzt ist er vollkommen in Vergessenheit geraten, im Gegensatz zu seinen Künstlerfreunden Carl Spitzweg und Eduard Schleich", bedauert Meißner. Es sei erwiesen, dass Seidel zusammen mit Spitzweg Wandertouren in den Bergen unternommen habe, um sich Anregungen für die Kunst zu holen. "Vom Fichtelgebirge bis zum Kochelsee, von Gastein und dem Zillertal bis an das schwäbische Meer, mit beiläufigen Abstechern nach der Ostsee und Berlin oder dem Dachauer Moos, reichte August Seidels Domäne, von wo er seine Stoffe einheimste", schreibt Hyazinth Holland 1904 im Deutschen Nekrolog über August Seidel. Die Forschungsstelle sei nun 2014 mit dem Ziel gegründet worden, um den zu Unrecht vergessenen Münchner Landschaftsmaler August Seidel zu erforschen. 2016 soll ein komplettes Werkverzeichnis des Künstlers veröffentlicht werden. Mit 1000 Gemälden, 500 Aquarellen und 4000 Zeichnungen.

Die eigentliche Arbeit, das Röntgen der Bilder, ist schnell erledigt und dauert nur wenige Sekunden. Radiologie-Assistentin Anja Heinrich übernimmt völlig ungerührt und so professionell wie sonst auch das Ausrichten der Apparatur und verscheucht während des Aufnahmeprozesses resolut die plappernden Besucher von der Tür zum Röntgenraum - aus Sicherheitsgründen. Das Ganze kostet natürlich auch Geld. Was die Kosten für das Bilderröntgen betreffe, da sei man noch in Verhandlungen, berichtet Balaton. Mehr will er dazu nicht sagen. Danach sitzen Röntgenfacharzt Jozsef Balaton, der Fahnder, und Raketenforscher Robert Schmucker, der Ästhet, gemeinsam vor dem Bildschirm und diskutieren mit Begeisterung die digitalen Röntgenaufnahmen. Jeden Pinselstrich kann man erkennen, jede Ausbesserung, die nachträglich vorgenommen wurde, alles in hundertfacher Vergrößerung. Fälschungen seien im glücklicherweise noch nicht untergekommen, freut sich Robert Schmucker. Zwei weitere Bilder sollen in Freising noch geröntgt werden. Dann zieht man mit den Werken von Seidel weiter in ein Institut nach Köln.

Dort will man sie der Infarotreflektografie unterziehen, mit der sich unter den Malschichten auch die Vorzeichnungen mit Grafit oder Kohle entdecken lassen. Mit Interesse beobachtet werden die Forschungen über das Werk von August Seidel auch von dessen Nachkommen, den Ururenkeln. Seidel selbst hatte drei Kinder, zwei Töchter und einen Sohn. "Wir können der Familie wirklich dankbar sein, nach dem Tod August Seidels wurde der gesamte Bestand seines Ateliers aufgehoben", freut sich Frank Meißner. Es ist also alles bereitet, um dem vergessenen Münchner Landschaftmaler August Seidel zu neuem Ruhm zu verhelfen.

© SZ vom 19.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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