Grasbrunn:Werte und Wertverlust

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Drei Stunden lang diskutieren die Grasbrunner über Unterkünfte für Asylbewerber. Der große Schulterschluss bleibt im Bürgerhaus aus. (Foto: Claus Schunk)

Grasbrunns Bürger diskutieren die Unterbringung von Flüchtlingen. Zweifel, Ängste und auch Ressentiments treffen dabei auf Hilfsbereitschaft und Offenheit. Die Politik versucht auf alle Fragen Antworten zu finden - doch auf manche gibt es noch keine

Von Korbinian Eisenberger, Grasbrunn

Sven Breipol hat seinem Gemeindeoberhaupt einen Papierstapel mitgebracht. Der Familienvater aus Neukeferloh-Nord hat Listen mit Unterschriften von 49 Familien gesammelt. Ein schriftliches Statement gegen Asylbewerber? Bestimmt nicht. "Wir sind in keinster Weise fremdenfeindlich", erklärt Breipol über das Mikrofon. Wehren wollen sich seine Mitstreiter aber gegen die Pläne von Bürgermeister Klaus Korneder (SPD), einen Großteil der Flüchtlinge künftig in ihrem Gemeindeteil unterzubringen.

Geklärt werden soll am Donnerstagabend die Frage, wie viele Menschen die Gemeinde aufnimmt, und wo. Für die Grasbrunner ist diese Neuigkeit derzeit mindestens genauso wichtig, wie die Entwicklungen auf den Fluchtrouten aus Afrika, die Europas Einheit auf die Probe stellt. Auch deshalb hat sich am Eingang des Bürgerhauses eine Schlange gebildet. Drinnen sitzen 300 Gäste Stuhl an Stuhl, das Gebäude hätte an diesem Donnerstagabend nicht recht viel kleiner sein dürfen. Zu einem Schulterschluss führt die enge Sitzordnung jedoch nicht, im Gegenteil.

Was Korneder und Landrat Christoph Göbel (CSU) verkünden, birgt einiges an Zündstoff: Flüchtlinge sollen in der Gemeinde künftig dezentral untergebracht werden, in kleineren Apartmentwohnungen, über die Ortsteile verteilt. Ein Raunen geht durch den Saal, als klar wird, dass ein Großteil der Schutzsuchenden künftig auf dem Bolzplatz im Gemeindeteil Neukeferloh-Nord wohnen soll. Im Oktober könnten diese Pläne vom Gemeinderat beschlossen werden - dann müsste der Bolzplatz verkleinert werden. Auch um sich den Kritikern dieses Vorhabens zu stellen, hat Korneder zur Bürgerversammlung eingeladen.

Zu den Gegnern gehören Breipol und seine Initiative - sie wollen verhindern, dass ein Teil des Bolzplatzes einem Flüchtlingswohnheim weichen muss. Nicht Unterbringung, sondern Sport und Spiel förderten Integration, sagt Breipol, insofern sei es kontraproduktiv, den Sportplatz zu verkleinern. Auch ein junger Neukeferloher greift zum Mikrofon, sein Haus, sagt er, könnte durch die Asylbewerber-Unterkunft an Wert verlieren. Er und ein Gast, der sich "um unsere hübschen Mädels" sorgt, ernten grimmiges Murren und Zwischenrufe. "Wir sollten uns nicht nur darum kümmern, was vor unserer Haustür passiert", schimpft jemand im Publikum zurück. "Wir müssen alle zusammenhelfen", sagt Eva Maas-Eiba aus Harthausen.

Es sind individuelle Solidaritätsbekundung und persönliche Ängste der Menschen in einer kleinen Gemeinde - und doch geht dieser Abend über Zwänge, Sorgen und auch Hoffnungen einzelner hinaus. An den Tischen unter dem Gemeinde- wappen, das am Oberrang pappt, werden auf engstem Raum viele jener großen Fragen gestellt, die Europas Spitzenpolitiker seit Monaten zu beantworten versuchen. Wie viele kommen? Wer sind die Fremden eigentlich? Und warum müssen wir mehr unterbringen als die anderen?

Göbel und Korneder versuchen ehrlich zu antworten, so ehrlich es eben geht. "Wir richten uns darauf ein, dass diese Menschen einige Jahre bei uns sein werden", sagt Göbel. Um sich auf die Neuankömmlinge einzustellen, hat das Landratsamt dazu unlängst eine Prognose erarbeitet. Demnach muss Grasbrunn einplanen, dass sich die Zahl der Asylbewerber in der Gemeinde bis Ende 2016 vervierfacht, von 42 auf 179. Im Landkreis liegt Grasbrunn, gemessen an seinen 6600 Einwohnern zwar genauso im Durchschnitt wie etwa Unterschleißheim, wo 26 000 Bürger leben. Dort soll sich die Zahl der Asylbewerber bis 2016 von 72 auf 719 aber verzehnfachen. Unterschleißheim würde demnach die meisten der insgesamt 9000 Asylbewerber aufnehmen, die laut Prognose bis Ende 2016 im Landkreis leben sollen. Derzeit sind es etwa 2900.

Die Zahlen, die das Landratsamt an diesem Abend präsentiert, würden auf einer Schätzung beruhen, sagt Göbel. "Wissen tun wir sie nicht", sagt er. Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte kürzlich selbst eine Prognose gewagt, von 800 000 Flüchtlingen gesprochen, die bis Jahresende nach Deutschland kommen würden. "Ich glaube es werden mehr", sagt Göbel.

Was passieren werde, wenn die Prognosen falsch sind, darauf wissen weder der Bürgermeister noch der Landrat eine Antwort. "Eigentlich sind die Kapazitäten der Gemeinde erschöpft", sagt Korneder. Kritik gibt es dafür aus mehreren Ecken des Raumes. Es könne nicht sein, dass es keinen Notfallplan gebe, lautet einer der Kritikpunkte: Wo bauen wir aus, wenn in zwei Jahren doppelt so viele Flüchtlinge zu uns kommen? Auf diese Fragen wüsste er gerne eine Antwort, sagt Johann Hiltmeier aus Grasbrunn. Göbel sagt darauf nur noch: "Ich auch."

© SZ vom 19.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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