Geretsried:Manch einer weint

Geretsried: Der Kreisvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Walter Pilz (li.), legt einen Kranz zum Gedenken an die Todesopfer nieder.

Der Kreisvorsitzende der Sudetendeutschen Landsmannschaft, Walter Pilz (li.), legt einen Kranz zum Gedenken an die Todesopfer nieder.

(Foto: Harry Wolfsbauer)

Sudetendeutsche und andere Landsmannschaften erinnern an Flucht und Vertreibung. Vor 70 Jahren waren rund zwölf Millionen Deutsche gezwungen, ihre Heimat zu verlassen - das bewegt viele noch heute

Von Pia Ratzesberger, Geretsried

Niemand weiß, wohin der Zug fahren wird. Der Befehl kommt frühmorgens, nur eine Stunde bleibt, um das Nötigste zusammenzupacken, dann hinauf in den Kohlenwagen. Einen kleinen Rucksack hat Walter Pilz dabei, vergeblich versucht er an den Ortsschildern zu erkennen, in welche Himmelsrichtung der Zug ihn bringt. Immer und immer wieder fragt er sich, was nun mit ihm und seiner Familie passiert, weit weg von Freudenthal, weit weg von der Heimat. Erst vier Tage später sollte er die Antwort kennen. Es ist der 12. Juli 1945, der alles ändert.

Der Zweite Weltkrieg war seit wenigen Wochen vorbei, doch Walter Pilz sagt heute: "Im Osten, zum Beispiel in Böhmen, Pommern und Schlesien, war der Schrecken noch lange nicht beendet." Die Deutschen wurden nun für den Terror der Nazi-Herrschaft bestraft, es kam zu Massenexekutionen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Arbeit in Zwangslagern und Inhaftierung. Etwa zwölf Millionen Deutsche wurden nach dem Krieg aus ihrer Heimat vertrieben. Bis zu drei Millionen waren es, die die Tschechoslowakei verlassen mussten. Am Gedenkstein des Rathauses in Geretsried hat die Sudetendeutsche Landsmannschaft am Samstagnachmittag an Flucht und Vertreibung erinnert. Mehr als hundert Menschen versammelten sich; als die Geretsrieder Bunkerblasmusik zum Gedenken an die Todesopfer spielte, weinte mancher. Die meisten Zuhörer haben die Zeit nach 1945 selbst miterlebt.

"Nach vier Tagen Reise wurden wir in Sachsen-Anhalt ausgeladen", erzählt Walter Pilz. Der 83-Jährige ist heute Vorsitzender der Sudetendeutschen Landsmannschaft. Zum Glück wohnte ein Onkel in der Gegend, im merseburgischen Industriegebiet. Dorthin mussten Pilz, Mutter, Großmutter und Schwester zu Fuß laufen. Der Proviant aus dem Rucksack war längst aufgebraucht. Die Familie bettelte um eine Brotzeit, fragte bei Bauern nach Essen und Wasser. Zehn Kilometer konnten sie einmal mit dem Zug mitfahren, der Rest war Fußmarsch. Zwei Wochen lang.

Wenn Walter Pilz heute die Bilder im Fernsehen sieht, von den Tausenden Flüchtlingen, die auf dem Weg nach Europa sind, erinnert ihn das an damals. Es sei vergleichbar, sagt er, aber nicht gleichzusetzen. Damals seien alle Deutsche gewesen, man kam aus dem gleichen Kulturkreis, sprach die gleiche Sprache, hatte die gleiche Religion: "Wir hatten es in diesem Fall leichter als die Leute heute, wir kamen zu Landsleuten." Auch wenn die nicht überall begeistert gewesen seien, dass sie plötzlich neue Nachbarn hatten.

Eine Dame, die mit ihrem Namen nicht in der Zeitung sehen will, trägt an diesem Tag in Geretsried, 70 Jahre nach der Vertreibung, noch immer den Prospekt des Berghotels ihres Vaters in der Tasche. Mehrfach mit Tesafilm geklebt, doch die altdeutsche Schrift noch immer gut erkennbar, blickt sie auf das Foto aus dem Riesengebirge. "Ein junger Tscheche hat das Hotel dann übernommen, mein Vater wurde sein Knecht, meine Mutter zur Magd", erzählt die 87-Jährige.

Es sei aussichtslos gewesen, sie selbst habe sich Tag und Nacht gefühlt wie Freiwild. "Wenn ein tschechischer Soldat kam und dem haben deine Stiefel gefallen, dann bist du eben in Socken nach Hause gelaufen", sagt die Frau. Am Hochzeitstag ihrer Eltern, dem ersten Mai 1946, sei die gesamte Familie in einem Viehwaggon nach Deutschland gekommen. Für sie sei es paradiesisch gewesen, die Grenze zu überschreiten, sagt die 87-Jährige. Die Heimat aber trägt sie mit dem Hotelprospekt ihres Vaters noch immer bei sich - geschützt in Klarsichtfolie.

Wenn man Walter Pilz nach seiner Heimat fragt, denkt er nicht lange nach. Hat er eben noch mit ernstem Blick von den Strapazen der Vertreibung erzählt, lächelt er nun. Heimat, sagt er, das sei noch immer Freudenthal. Auch wenn das heute anders heißt: Bruntál.

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