Flüchtlinge in Bayern:Wie das Leben abgeschnitten wird

Germany reintroduced border controls

Zwischen Salzburg und Freilassing herrscht seit Wochen Dauerstau. Für ein paar Kilometer brauchen Pendler eine Stunde.

(Foto: Barbara Gindl/dpa)
  • Am Bahnhof in Salzburg stranden täglich mehr als tausend Asylsuchende.
  • Die Region um Freilassing und Salzburg war eigentlich eng zusammengewachsen - jetzt ist die Grenze wieder abgeriegelt.
  • Die Menschen leben, als ob sie verfeindeten Regimes angehörten. Viele Pendler müssen sich auf lange Wartezeiten einstellen.
  • Die CSU erwägt nun, an den Grenzen "Transitzonen" für Flüchtlinge einzurichten - mehr dazu hier.

Reportage von Heiner Effern, Freilassing

Die ältere Frau muss ihre Haare, die ein Friseur so eindrucksvoll erröten ließ, immer wieder schütteln. "So was haben wir hier noch nie erlebt", sagt sie, als sie keinen Sitzplatz in der Linie 24 von Salzburg nach Freilassing ergattert. Sie sagt es, als der Bus vor der Grenze im Stau steht und auch, als sie 40 Minuten später auf der Saalachbrücke durch das Fenster Hunderte Flüchtlinge sieht, die auf dem Bürgersteig für ihre Einreise anstehen.

Dann folgt etwas, das sie zumindest fast 20 Jahre nicht mehr erlebt hat. Ein Bundespolizist steigt zu und sagt: "Die Ausweise bitte." Die Dame hat keinen dabei, verweist den Kontrolleur ersatzweise auf ihr ehrliches Gesicht. Bei ihr reicht das, ein junger Mann hinten im Bus muss aber aussteigen und sich auf der Brücke anstellen.

Mal ist es einer, mal sind es 30 Personen, die den Bus an der Staatsgrenze von Österreich nach Deutschland verlassen müssen. Sie gehören zu den wenigen Flüchtlingen, die die letzte öffentliche Verbindung von Salzburg nach Freilassing gefunden haben. Die meisten kommen zu Fuß vom österreichischen Bahnhof, an dem täglich mehr als tausend Asylsuchende auf ihrer Flucht stranden.

Dort endet ihr Weg, alle Verbindungen nach Deutschland sind gekappt. Der einzige Weg über die Grenze führt derzeit über die Saalachbrücke. Für Flüchtlinge. Und für alle anderen.

Wie zwischen verfeindeten Ländern

Seit die Bundesregierung vor gut zwei Wochen die Kontrolle der Grenzen an der Hauptfluchtroute aus dem Osten angeordnet hat, leben die Menschen in Salzburg und Freilassing, als ob sie verfeindeten Regimes angehörten.

Die S-Bahn? Eingestellt. Regionalzüge? Fahren nicht mehr. Die Bundesstraße, die Autobahn? Lange Staus wegen der intensiven Grenzkontrollen. Das Leben in einer Region, die seit dem Abbau aller Schlagbäume noch enger zusammengewachsen ist als sie es zuvor schon war. Es ist wie abgeschnitten.

Harald Seigert spürt das in diesen Tagen ganz deutlich, er steht etwas verloren in seinem Reich der Modelleisenbahnen, Autos und wilden Lego-Figuren. In seinem Spiel- und Freizeitgeschäft am Stadtrand von Freilassing herrscht Flaute. "Seit den scharfen Grenzkontrollen fehlen mir 50 bis 60 Prozent beim Umsatz", sagt er.

Die Kunden aus Salzburg blieben fast komplett weg. "Die haben teilweise eineinhalb Stunden gebraucht, bis sie bei mir waren", sagt er. Im relativ ruhigen September sei das gerade noch zu verkraften, "aber wenn das länger so weitergeht, muss ich anfangen, zu kündigen".

Im Rathaus bei Bürgermeister Josef Flatscher (CSU) melden sich ständig Geschäftsleute, denen es ähnlich ergeht. "Momentan wird uns wieder bewusst, wie schön grenzenlos wir normalerweise leben", sagt Flatscher. Am Anfang dieses Bewusstseins standen die Bilder, die bundesweit die Nachrichten beherrschten. Flüchtlinge, die auf dem Bürgersteig der Grenzbrücke kauern.

Warum auch die Salzburger klagen

Die spontane Hilfe der Freilassinger, die Socken, Kuscheltiere, Obst und alle möglichen Spenden verteilten. Und das bis heute tun. "Da bin ich stolz darauf", sagt Bürgermeister Flatscher, "aber das ist nur die eine Seite der Medaille."

Die andere wird auch ein paar Meter weiter im Hotel Moosleitner diskutiert. Hier treffen sich in der Gaststube die Gewerbetreibenden der Stadt regelmäßig zu ihrem Mittagstammtisch. Fast jeder kann eine Anekdote beitragen, wie die fast undurchlässige Grenze den Alltag stört. "Wenn ich zehn Mechaniker in der Werkstatt habe und fünf Kunden spontan ihre Termine absagen, kann ich die Leute heimschicken", sagt Michael Heiß, Betriebsleiter eines Autohauses.

Und die Salzburger würden einer nach dem anderen absagen. Hotelier Toni Niederbuchner erzählt von Zimmerstornierungen. Die Gäste, die im Haus sind, schickt er mit dem Rad nach Salzburg hinüber, weil sie sonst nur schwierig zurückkämen.

Auch Schüler und Studenten können keine Züge nutzen

Genauso hält es Bedienung Sabine Aicher mit ihren Töchtern, die in Salzburg zur Schule gehen. "Solange das Wetter hält, geht das ja", sagt die Bedienung. Aber was soll sie machen, wenn es friert und regnet? Anni Klinger, die ein derzeit verwaistes Geschäft für Brautmode betreibt, setzt sich jeden Morgen ins Auto, um ihre Tochter zur Schule zu bringen.

Da aber auch kein Student, kein Schüler und keiner der vielen Pendler die Züge nutzen kann, endet schon die Hinfahrt im Stau, auch wenn in diese Richtung nicht kontrolliert wird. Eine Stunde hin, eine Stunde zurück.

Die beiden Städte trennen offiziell ein paar Kilometer, doch faktisch sind sie beinahe zusammengewachsen. Seit jeher gibt es einen regen Austausch. Die Freilassinger fahren zum Bummeln, zur Ausbildung, zur Arbeit ins Kino oder ins Konzert nach Salzburg. Die österreichischen Nachbarn kommen vor allem zum Einkaufen.

Das liegt an der normalerweise nicht mehr spürbaren Staatsgrenze. Kosmetik, Lebensmittel und Dienstleistungen, all das ist in Deutschland 15 bis 30 Prozent günstiger. In Freilassing wird nicht diskutiert, welche Supermarktkette angesiedelt werden soll. Sondern darüber, welche noch keine Filiale in der Stadt hat.

Auch wenn es den stark von Touristen lebenden Einzelhandel in Salzburg kaum trifft, auch dort ist die kaum überwindbare Grenze ein Thema. Bei der Wirtschaftskammer des Landes beschwerten sich vor allem Frächter, die enorme Einbußen wegen der Staus verzeichnen, sagt ein Sprecher. Die international tätige Gewürz-Firma Wiberg hat auf beiden Seiten der Grenze Standorte und ist somit besonders betroffen.

"Mitarbeiter, die pendeln, planen eine halbe Stunde länger pro Weg ein", sagt Geschäftsführer Marcus Winkler. Auch bei jeder Fahrt zwischen den bei Standorten gebe es Verzögerungen, Winkler selbst stand mit einer 40-köpfigen Gruppe russische Kunden im Stau. Viel zu wenig Verkehr ist dagegen in der Freilassinger Fußgängerzone. Der Geschäftsführer eines Drogeriemarktes mag sich aus Frust nicht äußern.

Grenzkontrollen sollen neu organisiert werden

Thomas Scheid vom Tabakgeschäft gegenüber sagt: "Die Frequenz und der Umsatz in der Fußgängerzone haben sich spürbar reduziert." Um 25 bis 50 Prozent, schätzt er. Bei manchen auch mehr. "Wir hoffen bei all der Dramatik, dass beim öffentlichen Leben wieder Normalität einkehren kann."

Am Mittwochabend wurde bekannt, dass die Grenzkontrollen neu organisiert und damit wenigstens die Staus vermieden werden sollen. Doch das ist nur ein erster Schritt. Bürgermeister Flatscher erwartet Hilfe von der hohen Politik, "dass die Stimmung nicht umschwappt, sondern die Willkommenskultur erhalten bleibt".

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