Spanische Literatur:Komm auf den Punkt!

Auch im neuen Roman "So fängt das Schlimme an" setzt Javier Marías sein Zaubermittel ein: den Sog der langen, ausufernden Sätze - eine Rezension im Stil des Autors.

Von Tobias Lehmkuhl

Nicht allzu lang ist es her, dass ich diese Geschichte las - weniger lang als ein Wochenende gewöhnlich dauert, und wie gering ist ein Wochenende, wenn es vorüber ist, sich in ein paar Sätzen erzählen lässt und im Gedächtnis nur noch Asche bleibt, die sich beim kleinsten Beben löst, davonfliegt beim geringsten Windstoß -, und doch wäre es heute unmöglich, diese Geschichte wirklich präzise wiederzugeben, und damit ist nicht gemeint, was den beiden, Eduardo Muriel und seiner Frau Beatriz Noguera, als jungen Menschen geschehen war, und nicht so sehr das - obwohl auch das - was mit ihnen geschah, als der Erzähler dieser Geschichte ein junger Mann und ihre Ehe ein unauflösliches Unglück war.

Dabei hat es solche Figuren wohl immer gegeben, sie sterben nicht aus, es wird sie weiter geben, bestimmte Figuren wandeln sich nie, ob in der Wirklichkeit oder in der Fiktion, ihrer Zwillingsschwester, sie wiederholen sich im Laufe der Jahrhunderte, als mangelte es beiden Sphären an Fantasie oder als wäre es unausweichlich, ja man könnte meinen, wir erfreuten uns an einem einzigen Schauspiel, einer einzigen fortlaufenden Erzählung, wie kleine Kinder, mit unendlichen Varianten, in altmodischem oder modernem Kostüm, aber im Grunde immer die gleiche Geschichte. Das gilt auch für die Romane von Javier Marías, der eine Vorliebe für den Klang bestimmter Namen hat, für Jaime Deza oder Juan de Vere, junge Männer noch oder doch schon Männer im besten Alter, die in seinen Fiktionen die seltsam undurchsichtigen Erzählinstanzen darstellen. Dabei sind diese Fiktionen vielleicht gar nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern Geschichten, die er sich vielmehr selbst erzählt, Geschichten, die er erzählen muss, um in dieser Welt existieren zu können, Geschichten, die aus ihm herausströmen wie der Atem und die es ihm, der ein tiefer Melancholiker ist, erträglich machen zu leben.

Vielleicht fungiert das Erzählen von Javier Marías nicht zuletzt als Schutzschild gegen die Anfeindungen der Moderne, gegen die Handys, in die alle schauen wie in Kristallkugeln, wie er einmal schreibt, oder vielmehr erzählt, denn tatsächlich gleichen seine Romane den Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, bilden eine einzige, nie abgeschlossene Erzählung, auch wenn sie stets, und meist durchaus spannungsreich, einer Lösung zustreben, einer Lösung, die den Leser, der eigentlich ein Zuhörer ist, nicht unbefriedigt zurücklassen. Marías weiß, was ein guter Plot ist und was man von ihm erwartet, seine Bücher sind seit jeher von eben demselben Atem getragen, derselben Dringlichkeit, umweht vom gleichen melancholischen Air. Einen Punkt zu setzen fällt da schwer, dem Autor ebenso wie dem Kritiker, der sich dem verschlungenen Satzbau seines Vorbilds versuchsweise anverwandelt.

Javier Marias

Bespiegelt sich auch im neuen Buch ganz gern selbst: der spanische Autor Javier Marías.

(Foto: Anna Weise/SZ Photo)

Doch zurück zu den traurigen Helden dieser Erzählung, zu Eduardo Muriel und Beatriz Noguera, wobei es zu jeder Zeit einen Eduardo Muriels und eine Beatriz Nogueras gegeben haben dürfte, von den Statisten um sie herum ganz zu schweigen; ebenso einen Juan de Vere, denn so heißt er, der Erzähler dieser Geschichte oder dieses Romans, der Verfasser dieser ausschweifenden Überlegungen, der 64o-seitigen Gedankenschleifen, Juan Vere oder Juan de Vere, je nachdem wer seinen Namen sagt oder denkt. Nichts Originelles hat seine Figur, wie er selbst behauptet, und damit hat bis zum einem gewissen Punkt recht, denn originell darf sie, darf er nicht sein, darf nicht auffallen, muss sich im Hintergrund halten, ausgestattet mit nichts als einem hervorragenden Gedächtnis, um ja auch alle Windungen und Feinheiten, um jede Bewegung und jede Geste im Hause des Regisseurs Muriel und seiner Frau Beatriz mitzubekommen und sie sich zu merken (und seine eigene Rolle zu verschleiern).

Er braucht eine Weile, dieser Juan oder Javier, um in Gang zu kommen, anfangs stottert die Erzählmaschine ein wenig, es bedarf meist dreier Worte, um einen Sachverhalt endlich zu fassen, er muss immer wieder "nachhaken, bohren, herauskitzeln", bevor es dann wirklich an all das "schmutzige, unangenehme, niederträchtige" geht, von dem in "So fängt das Schlimme an" auch die Rede ist, von franquistischen Kinderärzten unter anderem, die die Gunst der Mütter einfordern, bevor sie ihre Kleinen behandeln. Aber schließlich und letztendlich ist "nichts einfacher, als jemandem die Zunge zu lösen, fast jeder ist darauf versessen, zu reden."

Und hat man einmal damit angefangen, gibt es bald kein Halten mehr, wobei man nicht vergessen darf, dass es immer auf den Standpunkt ankommt, und der des Zuhörers oder Lesers einer Geschichte - der letztlich einem Gerücht Aufmerksamkeit schenkt, so sehr der Berichtende auch schwört, aus erster Hand zu erzählen und die Tat begangen zu haben oder beteiligt gewesen zu sein - deckt sich niemals mit dem, der sie erlebt und in die Welt gesetzt hat oder mit jenem des Rezensenten, der die Geschichte, die Bücher, die Romane unter der Prämisse liest, sie wiedergeben, sie auf seine Art noch einmal erzählen zu müssen, der besagte 640 Seiten auf 140 oder, wenn er Glück hat, auf 180 Zeilen zu komprimieren und zudem noch darüber zu urteilen hat - ein Ding der Unmöglichkeit, und ungerecht obendrein, nicht nur dem Autor, auch dem Leser des Literaturteils gegenüber, so es ihn überhaupt noch gibt, am Ende sich selbst gegenüber, eine Aufgabe die stets, ja, einen Selbstbetrug darstellt, denn auch wenn der Rezensent einmal zufrieden ist und meint, seine Aufgabe mit Bravour erfüllt zu haben, stellt sein Beitrag doch nur eine jämmerliche Verkürzung dar, oder, wie in diesem Fall, ein schwaches Echo des Stils.

Spanische Literatur: Javier Marías: So fängt das Schlimme an. Roman. A. d. Spanischen v. Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 640 Seiten, 24,99 Euro.

Javier Marías: So fängt das Schlimme an. Roman. A. d. Spanischen v. Susanne Lange. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 640 Seiten, 24,99 Euro.

Kann ein Ziegelstein zugleich locker und luftig sein? Bei diesem Erzähler ja

Aber da uns nichts bleibt, als weiterzumachen, weiterzuerzählen, weiterzurezensieren, wollen wir uns nicht - wie Beatriz Noguera - umbringen, um ein anderes Schicksal zu wählen, sollte uns überhaupt je eine Wahl bleiben, sei hier noch einmal gesagt, dass es auf den Plot nicht ankommt, auch wenn man durchaus wissen will, warum Eduardo Muriel mit seiner Frau nicht mehr schläft, was sie ihm angetan hat, welche Lüge er, nach zwölf Jahren Ehe und drei Kindern nicht verzeihen konnte, welcher Verrat es war, der dazu führte, dass sein Schlafzimmer ihr verschlossen bleiben sollte auf immer, und dazu, dass dieser Juan de Vere oder Juan de Vera mit ihr schläft, die fast zwanzig Jahre älter ist als er, nur einmal, was freilich einmal zu viel sein kann, will man nicht zugleich Vater und Onkel eines Kindes - aber brechen wir hier ab, denn um den Plot geht es, wie gesagt, nicht, sondern um diesen wunderbar einlullenden Marías-Sound, diese mäandernden Bandwurmsätze, um die wie aus dem Nichts kommenden Reflektionen über Liebe, Tod, Fiktion und Verrat, die heruntergekocht auf ein paar wenige Worte zwar nie mehr darstellen als bloße Allgemeinplätze, die man trotzdem so gerne liest, weil sie einem das wohlige Gefühl vermitteln, die Welt, der Mensch ließe sich doch irgendwie ordnen und verstehen, für einen Moment in Sprache fassen - was immerhin reine Geschmacksache ist und jedem anders gehen kann.

Wer aber bis hierhin gelesen hat, dem wird es ähnlich gehen, und er wird losziehen, sich diesen locker-luftigen Ziegelstein von Buch kaufen (oder dazu das vermaledeite Internet aufsuchen), wird - so lesesüchtig wie der Autor erzählsüchtig und vielleicht, um für den Moment, für ein paar Stunden nicht allein zu sein - es in einem Rutsch verschlingen, auch wenn danach von der Geschichte und den pseudophilosophischen Überlegungen "nur noch Asche im Gedächtnis bleibt, die sich beim kleinsten Beben löst, davonfliegt beim geringsten Wind."

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