Dortmunds Julian Weigl:Harry Potter im Mittelfeld

1899 Hoffenheim v Borussia Dortmund - Bundesliga

Steile Karriere in Dortmund: der frühere 1860-Spieler Julian Weigl

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Von Freddie Röckenhaus

"Herausforderer" ist ein Begriff aus dem Boxen. Titelträger verteidigen da einsam ihren Meistergürtel, die Gegner können sie sich praktisch aussuchen und der Herausforderer verliert meistens sogar dann, wenn es eigentlich ein Unentschieden ist. Seit Thomas Tuchel seinen Dienst bei Borussia Dortmund angetreten hat, hat er seinen neuen Klub zum Herausforderer ausgerufen. Gemeint waren damit eigentlich alle sechs Klubs, die in der vergangenen Dortmunder Seuchen-Saison vor dem BVB standen. Dortmunds neuer Trainer hat nicht ahnen können, dass es schon am achten Spieltag so aussieht, als wäre der BVB der einzige Klub, der überhaupt noch eine Chance hat, den FC Bayern herauszufordern.

Tuchel wäre wohl nicht Tuchel, wenn er nicht so bescheiden wie möglich abwiegeln würde. "Nein", bemühte er sich also nach dem 1:1 seiner Mannschaft im Europa-League-Spiel bei PAOK Saloniki, die Bedeutung des Spitzenspiels am Sonntagabend in München herunterzuspielen. "Nein, das ist noch keine Vorentscheidung der Meisterschaft, dafür ist es zu früh in der Saison."

In Saloniki hatte Tuchel gleich acht Spieler seiner gefühlten Stammbesetzung aus der Startformation gelassen, fünf (Aubameyang, Gündogan, Hummels, Kagawa und Sokratis) ließ er gleich ganz zu Hause. Ein ziemlich klares Signal, dass Tuchel in München mit möglichst voller Kraft antreten will. Als Herausforderer eben - und nicht mit der inzwischen in der Liga verbreiteten Grundhaltung, dass alles andere als Platz zwei halt unmöglich sei, angesichts der Übermacht aus München.

Tuchel lobt die Bayern trotzdem erst einmal über den grünen Klee: "Das Gefährlichste an ihnen ist inzwischen, dass sie sich losgelöst haben von Sprüchen, Drohgebärden, öffentlichen Vorhersagen. Sie haben sich ihre eigene Atmosphäre geschaffen, nämlich Bescheidenheit gepaart mit allerhöchsten Ansprüchen. Kein Gegner erwischt sie mehr auf dem falschen Fuß."

Gegen Bayern darf man sich keine Aussetzer leisten

Damit hat Tuchel schon formuliert, warum einige seiner Spieler den Showdown in München sehr wohl schon als Vorentscheidung betrachten. Eine Niederlage würde den BVB auf bereits sieben Punkte Rückstand setzen. Das ist gegen eine spielerisch nicht an der Bundesliga, sondern nur noch an der Kategorie Real Madrid und Barcelona orientierte Mannschaft so gut wie nicht mehr aufzuholen.

Erfahrene Spieler wie Mats Hummels, der sich bei den letzten beiden Punktverlusten des BVB in Hoffenheim und erst recht daheim gegen Darmstadt massiv über die Schlafmützigkeit seiner Mitspieler beklagte, wissen das genau. Als Herausforderer von Wolfsburg, Leverkusen oder Schalke kann man sich Aussetzer leisten. Wer die Bayern herausfordern will, muss so gut wie jedes Spiel gewinnen. Aussetzer sind dann nicht erlaubt.

Guardiola kannte Weigl nicht

Tuchels Total-Rotation in Saloniki mag einfach nur mit dem nächsten Spiel zu tun gehabt haben, aber die Frage ist erlaubt, ob Tuchel so radikal Kräfte geschont hätte, wenn es an diesem Sonntag gegen Augsburg oder Bremen gegangen wäre. Saloniki hat gezeigt, dass ein bedeutender Unterschied zwischen den Bayern und den Dortmundern die Tiefe des Kaders ist. Während sich die Münchner permanent kleinere Rotationen leisten, ohne das mit Punktverlusten zu bezahlen, müssen sich beim BVB die ersten elf oder zwölf Spieler fast durchgängig verschleißen, um auf gleichem Niveau mitziehen zu können. Bezeichnend, dass Tuchel selbst in Saloniki auf Henrikh Mkhitaryan und den überaus erstaunlichen 20-jährigen Julian Weigl nicht verzichten konnte. Weigl wird in Dortmund allmählich als eine Art Harry Potter des zentralen Mittelfelds betrachtet. Der ausgerechnet aus München an die Ruhr und die Emscher geholt wurde, von Bayerns einstigem Rivalen TSV 1860.

Weigl musste bisher schon vierzehn Pflichtspiele bestreiten. Meist sogar über 90 Minuten. Kein Wunder, dass Pep Guardiola im Vorfeld des Gipfelspiels ins Schwärmen geriet über den verlorenen Sohn - der bei 1860 wohl offenbar unter Guardiolas Radar spielte. "Ich bin von ihm begeistert. Ich kannte ihn vorher nicht. Er bringt fußballerisch alle Voraussetzungen mit, um dort zu spielen. Er ist sehr wichtig für Dortmund, ohne ihn würde es für Dortmund anders aussehen. Genauso wie Joshua Kimmich wird er auch irgendwann Nationalmannschaft spielen", sagte er. Da könnte was dran sein. So unerschütterlich und sattelfest und passgenau agiert der junge Mann. Kein Schnörkel zu viel, kein Weg zu weit, mit einem traumwandlerischen Stellungsspiel, das Vergleiche mit dem jungen Beckenbauer heraufbeschwört.

Vom ganz großen Schwung, den Reus, Mkhitaryan, Gündogan und Kagawa zu Saisonbeginn verbreitet haben, ist im Moment allerdings nur noch in wenigen Momenten etwas zu sehen. Einzig Torjäger Pierre-Emerick Aubameyang trifft und trifft, in jedem der bisher sieben Bundesligaspielen mindestens einmal, ein Bundesliga-Rekord. Neun Tore waren es insgesamt. Aubameyang hat sich vor zwei Wochen auch am weitesten aus dem Fenster getraut: "Ich glaube nicht, dass die Bayern Meister werden," hat der Franzose mit gabunischem Vater, spanischer Mutter und italienischer Fußball-Ausbildung schlitzohrig gesagt.

Keiner sonst wird es in Dortmund im Augenblick zugeben, aber der BVB traut sich gegen Bayern München immer Siege zu, auch in München. Kein Klub hat dort öfter gewonnen als der BVB. Zuletzt im Elfmeterduell des Pokal-Halbfinales. Man hat beim BVB sehr genau studiert, wie die Bayern kürzlich gegen den FC Augsburg nur mit der massiven Mithilfe des Schieds- und des Linienrichters gewinnen konnten. Wenn da nur die eigenen Nachlässigkeiten in den anderen, vermeintlich einfacheren Spielen nicht wären. Wer die Bayern in ihrer aktuellen Wucht herausfordern will, darf sich eben nicht einmal mehr Unentschieden gegen andere leisten. Daran müssen sich einige in Dortmund erst noch gewöhnen.

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