Flüchtlinge:Angst vor Merkels Courage

Einheitsfeier Frankfurt

Merkel und die Menschen - hier bei der Feier zum Tag der Deutschen Einheit in Frankfurt am Main.

(Foto: dpa)

Viele Politiker glauben, es sei nun Zeit für Notwehr gegen Flüchtlinge. Die große Koalition hat Angst vor dem Mut der Kanzlerin - und vor ihren Wählern.

Kommentar von Heribert Prantl

Hilfe in der Not heißt Nothilfe. Deutschland hat viel Nothilfe geleistet in den vergangenen Wochen; so viel, dass viele Politiker, getrieben von Meinungsumfragen, glauben, es sei nun genug damit und Zeit für einen Paradigmenwechsel: Weg von der Nothilfe für Flüchtlinge, hin zur Notwehr gegen sie.

Das in eiliger erster Lesung beschlossene neue Asylrecht war der Auftakt für eine Kaskade von Abwehr-Forderungen. Die CSU geht mit Horst Seehofer voran, viele andere folgen: Thomas de Maizière, Thomas Oppermann, Sigmar Gabriel, Malu Dreyer - die große Koalition hat Angst vor der Courage ihrer Kanzlerin; und sie hat Angst vor ihren Wählern. Diese Angst ist dann berechtigt, wenn die Großkoalitionäre eine zwischen großer Hilfsbereitschaft und großer Beklommenheit schwankende Zivilgesellschaft verunsichern. Innere Stärke und Zuversicht in der Gesellschaft wachsen nur, wenn es eine kluge gesellschaftliche Steuerung der Migration gibt. Abwehr ist keine Steuerung; sie ist der alte Reflex.

Abwehr ist keine Steuerung. Sie ist der alte Reflex

Das klassische römische Recht, das die Rechtskultur der modernen Welt geprägt hat, kennt einen Rechtssatz, der den Flüchtlingsabwehr-Politikern vermeintlich zur Seite springt. Der Satz heißt: "Ultra posse nemo obligatur". Das bedeutet: Über sein Können hinaus wird niemand verpflichtet; niemand soll mehr leisten müssen, als er kann. Das klingt so, als hätten diejenigen, die strenge flüchtlingsbegrenzende Maßnahmen fordern, per se den Segen des ewigen Rechts. Den haben sie aber nicht. Dass sie nicht alle per se recht haben können, ergibt sich schon aus der Unterschiedlichkeit ihrer Forderungen: Die einen wollen die Außengrenzen abriegeln und auch gleich noch die Grenzkontrollen innerhalb der EU wieder dauerhaft einführen; andere wollen die Flüchtlingszahlen irgendwie deckeln; wieder andere wollen das deutsche Asylgrundrecht gänzlich abschaffen, obwohl das laut Grundgesetz in Artikel 19 Absatz 2 verboten ist. Dort heißt es: "In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden."

Gewiss: Niemand kann verpflichtet werden, mehr zu leisten, als er kann. Aber man sollte dieses Können nicht unterschätzen; man sollte nicht vorschnell "unmöglich" sagen. "Not lehrt beten", hat es früher geheißen. Not lehrt auch helfen, wenn man nicht angesichts der Größe der Not zu schlottern anfängt. Es ist nicht möglich, eine absolute Grenze für die Aufnahme von Flüchtlingen zu ziehen; man muss weg von statischen Begrifflichkeiten. Die Aufnahmefähigkeit eines Landes ist abhängig von seiner politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kraft. Unverträglichkeit ist aber schnell dann erreicht, wenn soziale Rechte eingeschränkt werden, um die Kosten für die Integration der Flüchtlinge zu zahlen. Die gewaltigen Zahlen an Flüchtlingen, die schon gekommen sind und die noch kommen wollen, stellen Politik und Gesellschaft vor Herausforderungen, die mit bisherigen Erfahrungen nicht zu bewältigen sind. Innen- und Außenpolitik werden neue Erfahrungen machen müssen.

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