Wohnungslose und Flüchtlinge: Wer hier wirklich gegen wen kämpft

  • Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) schätzt, dass bis 2018 gut 531 000 Menschen keine eigene Wohnung mehr haben - ein deutlicher Anstieg.
  • Ursache des Wohnungsmangels ist der Arbeitsgemeinschaft zufolge nicht die Zuwanderung, sondern fehlendes Engagement im sozialen Wohnungsbau.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Thomas Specht formuliert es sehr vorsichtig und mit vielen "Wenn", die er vorausschickt. Wenn also vieles schiefgeht, dann "ist es nicht vermessen, dass es zu einer unguten Konkurrenz von Zielgruppen kommen kann". Thomas Specht ist Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW). Was er meint, ist das, was andernorts auch mal mit drohenden Verteilungskämpfen beschrieben wird. Verteilungskämpfen zwischen Flüchtlingen und Obdachlosen, um es zugespitzt zu formulieren.

An diesem Montag stellt Specht für seinen Verband die neuesten Obdachlosen-Zahlen vor. Die Lage ist angespannt. Wenn sich nicht grundlegend etwas ändert, dann werden 2018 gut 531 000 Menschen keine eigene Wohnung mehr haben. Im vergangenen Jahr waren es mehr als 314 000 Menschen.

Viele von ihnen kommen in Notunterkünften der Städte unter oder werden von Freunden oder Verwandten aufgenommen. Gut 29 000 Menschen bleiben übrig, die "Platte machen", auf der Straße leben.

Die Zahlen klingen recht präzise. Es sind aber nur Schätzungen. Bundesweit erhebt lediglich Nordrhein-Westfalen regelmäßig eine sogenannte Wohnungsnotfall-Statistik. Aus diesen Zahlen und eigenen Umfragen unter Kommunen rechnet die BAG Wohnungslosenhilfe ihre Daten hoch.

Andere Daten über Wohnungslosigkeit gibt es nicht. Die Bundesregierung weist darüber keine Statistik aus. Ein Unding findet Winfried Uhrig, Vorsitzender der BAGW. "Es fehlt völlig ein statistischer Überblick." Das müsse die Bundesregierung am besten sofort ändern.

Dass nach den Schätzungen der BAGW die Wohnungslosen-Zahlen derart ansteigen werden, liegt nur zu einem geringen Anteil an den Flüchtlingen. 800 000 Flüchtlinge erwartet die Bundesregierung zwar bis Jahresende. Die BAGW rechnet gar mit insgesamt 2,2 Millionen Menschen, die Zuflucht in Deutschland suchen. "Konservativ gerechnet", erklärt Geschäftsführer Specht.

Doch längst nicht alle werden auf dem engen Markt für kleine und preiswerte Wohnungen drängen. Die Hälfte der Flüchtlinge kommt in Notunterkünften und Asylheimen unter, sagt Specht. Er beruft sich da auf Zahlen von Pro Asyl. Im Schnitt werde dann noch für zwei bis drei Flüchtlinge jeweils eine Wohnung benötigt. Der Bedarf an neuen und preisgünstigen Ein- bis Drei-Zimmer-Wohnungen wird zu etwa einem Drittel durch Flüchtlinge hervorgerufen, sagt Specht

Das Problem seien deshalb nicht die Flüchtlinge. "Das ist machbar." Sondern die aus Sicht des Verbandes verfehlte Wohnungsbaupolitik der vergangen Jahre. Der soziale Wohnungsbau deckt den Bedarf längst nicht mehr. Jedes Jahr fallen 60 000 Wohnungen aus der Bindung. Das sind Wohnungen, deren Neubau mit Steuergeld gefördert wurde und die dann für einen bestimmten Zeitraum günstig an Bedürftige vermietet werden mussten. Danach können sie ohne jede Einschränkung auf dem Wohnungsmarkt angeboten werden.

Der Bestand der Sozialwohnungen ging zwischen 2002 und 2013 um mehr als eine Million auf 1,4 Millionen Wohnungen zurück. Das ergibt sich aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken vom Juli.

Auf dem Flüchtlingsgipfel Ende September hatte die Bundesregierung noch zugesagt, 500 Millionen Euro zusätzlich für sozialen Wohnungsbau bereitstellen zu wollen. Damit lassen sich allerdings höchstens 30 000 neue Wohnungen bauen, bemerkt Specht. Wenn aber 60 000 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen, wird damit nicht mal dieser Rückgang kompensiert.

Verbandschef Uhrig fordert deshalb den Neubau von mindestens 400 000 Wohnungen in den kommenden Jahren, 150 000 davon müssten preiswert sein. Die Zahlen decken sich mit den Vorstellungen des Mieterbundes, die Ende September vorgestellt wurden.

Bemerkenswert: Ein Platzproblem gibt es an sich nicht. Die Wohnfläche ist in Deutschland trotz gleichbleibender Bevölkerungszahlen gestiegen. Gebaut werden jedoch mit Vorliebe großzügige Luxuswohnungen. Der wahre Verteilungskampf findet also nicht zwischen Flüchtlingen und Obdachlosen statt. Sondern zwischen Reich und Arm.

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