Die Zahlen der ankommenden Flüchtlinge werden laufend korrigiert. Im Sommer war von 30 000 Kinder von Asylsuchenden die Rede, die im September in Bayerns Schulen gehen. Im September sprach Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) dann von Zehntausenden. Nun heißt es im Ministerium, dass viele Zahlen kursieren und niemand Konkretes weiß. Dass Planen auf dieser Grundlage schwierig ist, geschenkt. Dass das Kultusministerium sich bemüht, sehen auch Opposition und Lehrerverbände ein.
Nur, schon zu Schuljahresbeginn war klar, dass es nicht reicht, Lehrer nachzuqualifizieren und die Übergangsklassen an Volks- und Berufsschulen aufzustocken. Jetzt schlagen die Psychologen Alarm: Eine aktuelle Studie der TU München zeigt, dass jedes dritte geflohene Kind aus Syrien unter psychischen Störungen leidet und auch die Kinder aus afrikanischen und arabischen Ländern posttraumatische Belastungsstörungen von der monatelangen Flucht haben.
Kinder brauchen viel Betreuung
Sie alle kommen spätestens drei Monate nach der Ankunft in Bayern in die Schulen. "Die schweren Traumata der Flüchtlingskinder können dabei Folgen für die ganze Klasse und die Familien haben", sagt Hans-Joachim Röthlein, der Vorsitzende des bayerischen Schulpsychologenverbandes. Je später diese Jugendlichen professionell beraten werden, desto schwieriger sei die Integration. Der psychologische Bedarf der Kinder werde zu wenig gesehen, sagt er. Die Folgen könnten Traumata durch gescheiterte Integration, Drogenmissbrauch und Rebellion gegen gesellschaftliche Regeln sein.
Diese Schüler müssten besonders betreut werden, das gelinge noch am leichtesten in den Schulen. Therapeuten könnten das nicht allein leisten - falls die Kinder dort überhaupt hingehen. Auch das Kriseninterventions- und Bewältigungsteam bayerischer Schulpsychologen (Kibbs) werde bisher nicht eingesetzt. Dabei stünden 92 Spezialisten bereit, die mit Traumata umgehen können und sonst bei Krisen im schulischen Umfeld wie Todesfällen, Gewalttaten oder Suizid helfen. Aber der Freistaat stellt keine Stunden für Kibbs bereit, sagt Röthlein. Es gebe nicht einmal ein psychologisches Konzept für die Flüchtlingskinder. "Mit etwa 20 Lehrerstellen hätten 100 Psychologen sechs Stunden pro Woche Zeit, um sich um Flüchtlingskinder zu kümmern."
Die wenigsten Lehrer in Grund-, Mittel- und Berufsschulen haben gelernt, wie sie mit traumatisierten Kindern umgehen müssen. Und die meisten der etwa 860 Schulpsychologen haben ohnehin nur sechs Stunden pro Woche Zeit für diese Aufgabe. Sie alle unterrichten auch Klassen. Nur gut 110 Lehrer kümmern sich mehr als die Hälfte ihrer Unterrichtszeit um Psychologie und Supervision der Kollegen. Denn auch die Betreuung der Lehrer sei wichtig, sagt Röthlein. Wenn diese sich allein gelassen fühlen, halten sie das nicht lange durch, bestätigt Simone Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, in dem traditionell die Volksschullehrer vertreten sind.
Es geht nicht nur darum, Deutsch zu lernen
Längst nicht in allen 470 Übergangsklassen an Grund- und Mittelschulen unterrichten Pädagogen, die Deutsch als Zweitsprache studiert haben. Ohne die Hilfe von Psychologen und Dolmetschern fühlten sich manche Kollegen überfordert und fragten bereits, wie sie das schaffen sollen. Einige Flüchtlingskinder haben noch nie eine Schule von innen gesehen. Und dort, wo es keine Sprachlernklassen gibt, sitzen diese im normalen Unterricht.
Schon jetzt gibt es Übergangsklassen, in denen bis zu 23 Kinder sitzen, 16 gilt als Obergrenze. Die ersten werden mit ein paar Brocken Deutsch in die Regelklassen geschickt. Die nächsten Flüchtlingskinder, die noch kein Wort verstehen, warten schon. "Das schönt die Zahlen und konterkariert die Integration, eigentlich brauchen Kinder eineinhalb Jahre, um einigermaßen Deutsch zu können", sagt Fleischmann. Bis zum Sommer leitete die Schulpsychologin eine Volksschule im Großraum München. Das Ministerium müsse die Psychologen aus dem normalen Unterricht nehmen und das Kibbs-Team einsetzen, fordert Fleischmann. Dann sollten andere Lehrer die Klassen der Kollegen übernehmen. Doch die müssen erst einmal eingestellt werden.
Der Schwerpunkt liegt auf Sprachlehrern
Schulpsychologen werden mehr denn je gebraucht werden, aber im Ministerium werden sie stiefmütterlich behandelt, kritisiert Günther Felbinger, der Bildungsexperte der Freien Wähler. "Wenn man die Herausforderungen ernsthaft angehen will, müssen die Schulpsychologen massiv verstärkt und die Beschulung der Flüchtlinge professionalisiert werden." Er fordert 1000 zusätzliche Lehrer, darunter 150 Psychologen, und mehr Stunden für die 860 Beratungslehrer. Sie sollten mehr als die Hälfte der Woche im Einsatz sein, alles andere sei Pusselei. Psychologische Beratung könne so nicht ernsthaft betrieben werden, darunter leide auch die Fachlichkeit, sagt Felbinger. Er arbeitete 16 Jahre lang als Lehrer an einer Sonderschule und sah dort, dass Psychologen manchmal mehr für Kinder tun können als Lehrer.
Der Schwerpunkt liegt im Ministerium auf Sprachlehrern und dem Ausbau der Übergangsklassen. 50 zusätzliche Pädagogen mit dem Fach Deutsch als Zweitsprache wurden im September angestellt, weitere 50 stehen als Reserve bereit. Auch der Kultusminister verhandelt in diesen Tagen ums Budget im Nachtragshaushalt. Der Ausbau der schulpsychologischen Beratung stehe auf der Agenda, sagt der Ministeriumssprecher Ludwig Unger. Fakt ist bisher nur: Die für den Nachtragshaushalt angedachten weiteren 50 zusätzlichen Lehrer reichen bei Weitem nicht.
