Außenansicht:Sonst sehen wir alt aus

Franz Müntefering (Präsident ASB Bundesverband) zu Gast bei âÄžWohnen im ViertelâÄœ, Zuhause versorgt âÄ" ein Leben lang. Karl-Preis-Platz 4; Franz Müntefering, 2015

Franz Müntefering, 75, ist Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes. Als SPD-Politiker war er Minister, Generalsekretär, Bundesvorsitzender und schließlich von 2005 bis 2007 Vizekanzler unter Angela Merkel.

(Foto: Florian Peljak)

Die vielen Flüchtlinge bedeuten einen enormen volkswirtschaftlichen Nutzen für Deutschland.

Von Franz Müntefering

Im Koalitionsvertrag vom Herbst 2013 wurde der Finger in die Wunde gelegt: ". . . stehen mit dem demografischen Wandel und dem Fachkräftemangel vor neuen tief greifenden Herausforderungen." "Mit einer Allianz für Fachkräfte wollen wir das Thema in den Mittelpunkt der Diskussion von Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften stellen." "Uns ist bewusst, dass Deutschland zu den Ländern gehört, die weltweit am tief greifendsten vom demografischen Wandel betroffen sind."

Das konnte man alles nur unterstreichen, denn es hat handfeste Begründungen und ist weiter gültig. Die geburtenstarken Jahrgänge (1950 bis 1964) sind inzwischen 50 bis 65 Jahre alt. 2030 werden sie fast alle Rentner sein. Die Zahl der heute etwa 49 Millionen im Alter zwischen 20 und 64 Jahren (also im Erwerbsalter) schrumpft zügig in Richtung 40 Millionen, bis 2060 werden es bloß noch 34 bis 38 Millionen Menschen sein. Circa im Jahr 2020 beginnt die Sache dann ernst zu werden. In den Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung sind dabei schon bis 2030 etwa drei Millionen Zuwanderer (netto) unterstellt, sonst wäre die Perspektive sogar noch schwieriger gewesen.

Die Geburtenzahl liegt in unserem Land bei etwa 700 000 pro Jahr, die Zahl derer über 65 steigt bald auf 30 Prozent und mehr, die Zahl der Sterbefälle wächst von etwa 870 000 in Richtung einer Million. Jede nachwachsende Elterngeneration ist kleiner als die vorherige. Wenn die Geburtenhäufigkeit nicht deutlich zunimmt, ist eine problematische Spirale der Bevölkerungsstruktur unvermeidlich. Und der Mangel an Fachkräftenachwuchs wird sich auch nicht durch Produktivitätssteigerungen ausgleichen lassen. Denn die sind im üblichen Umfang in die Prognosen eingerechnet, und der große Bereich Soziale Arbeit (speziell Pflege, wo die Zahl der Bedürftigen von etwa 2,5 Millionen auf mehr als 3,5 Millionen steigen dürfte) lässt keine höhere Umschlaggeschwindigkeit zu, erfordert im Gegenteil mehr Zeit für die betroffenen Menschen, also mehr Personal. Wo soll das herkommen?

Uns fehlen in Deutschland jährlich bis zu 300 000 Geburten, um einen kontinuierlichen, angemessenen Gleichstand an Zahl und Struktur der Bevölkerung zu halten. Die Geburtenrate dieser Jahre deckt nur gut zwei Drittel des Bedarfs. Knapp 30 Prozent der 1970 Geborenen sind kinderlos. Diese 300 000 fehlen uns aber auch schon für zahlreiche der vergangenen Jahre, seit Jahrzehnten. Das Medianalter steigt deutlich. Wir leben in der Illusion, irgendwie werde sich das Generationenloch schon füllen. Die demografische Debatte in unserem Land ist überwiegend ignorant: Wir wissen Bescheid . . . und warten mal ab.

Keine Frage: Integration von Ausländern kostet Geld. Kinder haben aber auch

Nun kommen sehr viele Menschen in unser Land. Sie erhalten organisierte und spontane Hilfe, zivilgesellschaftlich und staatlich. Ein bisschen stolz ist man schon, wenn man das erlebt. Aber wir sind hoch alarmiert, weil das mit der Organisation nicht perfekt ist. Wir haben gerne alles im Griff, aber das haben wir zurzeit nicht und das verunsichert uns. Wir sind eben ordentlich und das hat ja auch seine Vorteile.

In einigen Monaten wird alles durchorganisiert sein: schnelle Entscheidungen bei Asylanträgen, intensive Deutschkurse, zusätzliche Integrationsangebote in Kita, Schule, Ausbildung und Arbeitsmarkt. Es kann beginnen, was im Koalitionsvertrag noch wie eine Fata Morgana klang und in Demografie-Kongressen eher folkloristisch daherkommt. Es gibt nun die Chance, eine Lücke zu füllen, die seit Ende der 1960er-Jahre in unserer Bevölkerungsstruktur entstanden ist. Vor der die einen ratlos und die anderen die Augen zukneifen, bisher - was alles wenig hilft.

Es gibt Zwischenrufe, verständliche und überflüssige, die beantwortet sein wollen:

1. Was geht uns die Welt an, wir haben eigene Probleme. - Das mit den Problemen stimmt. Mit dem, was jetzt passiert, müssen unsere Probleme nicht wachsen, sie können auch gemildert werden. Aber es gibt auch keine Stadtmauern mehr, hinter denen wir uns verstecken und separieren könnten. Wir leben weltweit im offenen Gelände. Man kann das leugnen. Ändern kann man es nicht. Wir haben Mit-Verantwortung.

2. Wir brauchen Fachkräfte, aber Fachkräfte sind die meisten der Asylbewerber nicht. - Stimmt. Aber meinen wir wirklich, wir könnten unsere Lücken schließen, indem wir in großer Zahl Entwicklungs- und Schwellenländern nach dem Punktesystem ihre Spitzenkräfte abwerben, die diese für viel Geld ausgebildet haben und die sie noch dringender brauchen als wir?

Eine große Bildungskampagne für die Zuwanderer wird auch das Binnenwachstum stärken

3. Integration ist teuer. - Ja, das kostet. Aber wenn wir plötzlich die gewünschten 300 000 Kinder mehr hätten, würden wir diese über 20 bis 25 Jahre mit viel Geld qualifizieren (wollen und müssen), Jahr für Jahr. Auch des Menschenrechts auf Bildung wegen. Anders: Wir sparen zurzeit Geld, das wir eigentlich zur Sicherung unseres heutigen Wohlstands in Bildung und Ausbildung investieren müssten. Es sind eben diese Menschen bisher nicht vorhanden gewesen. Wir leben - auch an dieser Stelle - auf Kosten der kommenden Generationen. Eine - kostenintensive! - massive Bildungs- und Integrationskampagne für die Zuwanderer über Jahre hinweg wird auch das Binnenwachstum stärken, was wir uns wünschen.

4. Wir können doch nicht alle retten! - Das ist wahr. Es kommen auch nicht alle. Und alle zu retten verspricht auch niemand. Aber die Einsicht in die schlimme Wahrheit, dass wir nicht alle Asylberechtigten der Welt retten können, ist keine Entschuldigung dafür, einen dieser Menschen nicht zu retten, obwohl wir ihn retten könnten. Das ist die Messlatte: Wollen wir möglichst viele retten oder möglichst wenige?

5. Das Problem ist, dass so viele auf einmal kommen. - Unbestritten. Das macht die Sache schwer und schwieriger. Es macht sie aber nicht unmöglich.

Die Koalition hat noch zwei Jahre Zeit, im Sinne ihres Vertrages "Deutschlands Zukunft gestalten" für vernünftige Weichenstellungen bei diesem Thema zu sorgen. Eine "Gemeinschaftsaufgabe Demografie und Integration" könnte ein sinnvolles Instrument sein. Deutschland hat die Chance, seine Zukunft zu gestalten, Europa auch. Das wird für einige Zeit ziemlich anstrengend. Aber das würde es auch ohne Zuwanderer und dann mit schlechteren Perspektiven. Gelingen kann es. Zuversicht ist erlaubt.

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