Bayern-Profi Jérôme Boateng:Der stille Kaiser

04 10 2015 xovx Fussball 1 Bundesliga FC Bayern München Borussia Dortmund emspor Jerome Boate

Beeindruckte zuletzt beim FC Bayern mit langen Bällen: Jérôme Boateng.

(Foto: Jan Hübner/imago)
  • Nationalspieler Jérôme Boateng ist zum Führungsspieler auf Weltklasse-Niveau gereift.
  • Ein zentraler Grund dafür findet sich an einem Juli-Tag 2014.

Von Johannes Aumüller, Frankfurt

Oben auf dem Podium saß also der neue Kaiser, aber er schlug einen so gleichmütigen Ton an, als präsentiere er als Abteilungsleiter Gewerbesteuern beim Jour Fix der Finanzamtsführung seine neuesten Bilanzen. Das hat gut geklappt mit dem Ball auf ihn; er ist gut gelaufen; der Pass kam gut an. Fertig.

Es ist fraglich, ob es irgendein fußballerisches Ereignis gibt, nach dem sich Jérôme Boatengs Tonlage in öffentlichen Stellungnahmen gravierend verändern würde. Womöglich könnte dies der Fall sein, wenn er in einem WM-Finale in der letzten Minute per Fallrückzieher ein Tor erzielt, das er sich zuvor selbst per Eckball aufgelegt hat, aber selbst das ist nicht hundertprozentig klar.

Nicht ausreichend für überschwängliche Darlegungen sind für ihn jedenfalls jene präzisen 70-Meter-Bälle, die Thomas Müller und Robert Lewandowski beim 5:1 des FC Bayern gegen Dortmund am Sonntag für Tore nutzten - und für die ihn Mitspieler Müller zum "Kaiser Jérôme" kürte, weil der Original-Fußballkaiser früher auch mal so Bälle schlug. Hat halt gut geklappt, und der Müller ist gut gelaufen.

Ein vorgelagertes Bollwerk namens Boateng

Boateng, 27, hat eine ungewöhnliche Entwicklung hinter sich, und er ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Spieler auf dem Platz reifen kann. Über viele Jahre galt er als ein hoch talentierter Verteidiger, den aber stets eine Art Sekundenschlaf übermannen konnte: eine wilde Grätsche hier, ein Aussetzer da, ein unnötiger Platzverweis dort. Seit einiger Zeit aber ist Boateng der Spieler, den eine Wahlkommission zum besten Verteidiger der Welt küren könnte, ohne sich deswegen angreifbar zu machen.

Und jemand, der sowohl beim FC Bayern als auch bei der Nationalelf, mit der er sich gerade auf die abschließenden EM-Qualifikationsspiele gegen Irland und Georgien einstimmt, zu einem Anführer aufstieg. "Ich denke, ich bin im Spiel ruhiger geworden, und ich denke, das sieht man im Spiel auch", sagt Boateng.

Die Gegner des FC Bayern/der Nationalelf waren ohnehin nie zu beneiden, weil sie wussten, dass da hinten ein Bollwerk namens Manuel Neuer steht. Nun müssen sie stets einkalkulieren, dass auf dem Weg zum Bollwerk Neuer inzwischen noch ein vorgelagertes Bollwerk Boateng existiert. So schnell und zweikampfstark, so robust und präsent ist der gebürtige Berliner, dass er zur Not auch mal eine Eine-Mann-Abwehr bilden könnte.

Der beste Mann im WM-Finale? Jérôme Boateng

Und dazu ist er auch noch mit einem Fuß ausgestattet, der solche Pässe schlagen kann wie gegen Dortmund und in dem sich die Kraft für einen der härtesten Schüsse der Liga verbirgt. Gänzlich gefeit vor Aussetzern ist er zwar immer noch nicht, aber die Abstände zwischen zwei Boateng-Böcken werden kontinuierlich größer, und der letzte ist nun schon fast so lange her wie der letzte lange Traumpass des Original-Fußballkaisers.

Es ist wahrscheinlich nicht falsch, einen zentralen Schritt für Boatengs Entwicklung an einem Juli-Tag 2014 zu suchen. Damals drehte sich nach dem WM-Finale von Rio vieles um den letzten Ritter alias Bastian Schweinsteiger, der sich so heldenhaft in die Schlacht mit den Gauchos warf, und den Siegtorschützen Mario Götze. Aber der beste Mann auf dem Platz und Titelbringer war eigentlich dieser Jérôme Boateng mit seinen Grätschen und Abwehrkünsten.

Einmal als Kapitän des DFB auflaufen

Seitdem ist er einer der Chefs; und nicht aufdringlich, aber vernehmbar hat er zuletzt des Öfteren den Wunsch ausgesprochen, einmal als Kapitän des DFB aufzulaufen. "Die Binde wäre für mich etwas ganz Besonderes und eine große Ehre in meiner Karriere, trotz des Weltmeistertitels", sagte er kürzlich der FAZ. "Als erster farbiger Kapitän wäre das mit Blick auf die Integration auch ein starkes Zeichen nach außen."

Irgendwann einmal hat das deutsche Fußballland unter Führungsspieler ja nur brüllende Effenbergs und van Bommels verstanden, aber diese Zeiten sind vorbei. Inzwischen weiß das Land, dass auch die etwas stilleren Lahms und Schweinsteigers auf ihre Art sehr ordentliche Führungsspieler abgeben können, und jetzt lernt es wohl auch noch, dass der noch stillere Boateng auch ein sehr ordentlicher Führungsspieler sein kann.

In dieser Funktion sprang er dann auch noch seinem Dortmunder Führungsspieler-Kollegen und DFB-Nebenmann Mats Hummels zur Seite, der gerade in der Kritik steht, weil er beim BVB das Abwehrverhalten der Mitspieler nach dem 1:5 in München erneut öffentlich kritisierte - ohne sich selbst einzubeziehen: "Mats ist Kapitän bei Dortmund. Ich glaube, er hat das Recht, Sachen anzusprechen", sagte Boateng, was sie beim BVB etwas anders sehen. "Wir müssen sicherlich mit Mats mal reden", sagte Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke erkennbar verstimmt.

Auch Neu-Kaiser Boateng muss aber noch eine Sache klären. Denn seine schönen langen Bälle, für die er seit Sonntag so viel Lob erfährt, sind in der Nationalmannschaft traditionell eher ungern gesehen. Nebenmann Hummels hat das in den vergangenen Jahren schon das eine oder andere Mal vom Bundestrainer hören dürfen. "Unser Spiel sind nicht die langen Bälle", sagt Boateng also wahrheitsgemäß, schiebt aber sinngemäß hinterher: Der Trainer wird schon nichts dagegen haben, wenn Diagonal- oder sonstige lange Bälle dergestalt in die Spitze gelangen, dass sie zu solchen Toren führen wie am Sonntag beim FC Bayern.

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