Leichtathletik:Raus aus der Provinz

Der SC Neubrandenburg war auch nach dem Ende der DDR lange ein Medaillenlieferant. Mehr und mehr wird der SC nun zur Ausbildungsstätte für Talente, die ihre Erfolge für andere Klubs holen.

Von Thomas Hahn

Die Sache mit Anna hat doch ein bisschen wehgetan, da redet der Geschäftsführer Rainer Wendelstorf nicht lange drumrum. Kein Verein findet das schön, wenn ihn eine A-Kader-Leichtathletin mit Olympia-Aussichten verlässt, schon gar nicht der SC Neubrandenburg, der doch einen Ruf als Medaillenschmiede besitzt und plötzlich dasteht, als gingen ihm die Kräfte aus. Außerdem traf der Abschied von Anna Rüh, 22, den Verein unvorbereitet. "Die Athletin hat mit uns kaum gesprochen", sagt Präsident Heinrich Nostheide, der neben Wendelstorf in der Geschäftsstelle des berühmten, in gewisser Weise auch berüchtigten SC Neubrandenburg sitzt. Hier am Tisch saß die frühere U20-Weltmeisterin und sagte, sie sei schon so gut wie umgezogen nach Magdeburg. "Wir konnten nicht mehr gegensteuern", sagt Wendelstorf. Und dann erzählen er und Nostheide davon, dass der SC Neubrandenburg nicht sterben werde am Abschied der hochbegabten Diskuswerferin Rüh und zweier anderer Kader-Athleten.

Das stimmt natürlich, den SC Neubrandenburg kriegt so schnell nichts klein. Er hat schon ganz andere Krisen erlebt und den deutschen Sport dann doch immer wieder mit Medaillen beliefert. Er ist ein besonderer Verein, und zwar nicht nur weil er im bevölkerungsarmen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern einer der wenigen Vereine mit nationaler Bedeutung ist. Sondern auch weil er wie wenige für die Doppelbödigkeit des Leistungssports steht.

Der SC Neubrandenburg ist zu DDR-Zeiten ein Erfolgsstandort des Staatsplan-Dopings gewesen. Er war die sportliche Heimat von Katrin Krabbe, welche die Nachwende-Deutschen erst wegen ihrer Schönheit und ihrer Sprintsiege bei der Leichtathletik-WM 1991 in Tokio feierten - ehe die vereinte Nation sie als Hauptfigur in Dopingaffären und nach ihrer Sperre wegen Clenbuterol-Befunds als Klägerin auf Schadenersatz kennenlernte. Krabbes Coach war Thomas Springstein, 2002 Leichtathletik-Trainer des Jahres, 2006 wegen Weitergabe von Dopingmitteln an Minderjährige zu einer Bewährungsstrafe verurteilt.

22nd European Athletics Championships - Day Five

"Wir konnten nicht mehr gegensteuern." Geschäftsführer Rainer Wendelstorf und seine Kollegen sind überrascht vom Abschied der Diskuswerferin Anna Rüh.

(Foto: Ian Walton/Getty Images)

Es gibt auch andere Gold-Gewinner des SCN: Den dreimaligen Kanu-Olympiasieger Andreas Dittmer, die Kugelstoß-Olympiasiegerin Astrid Kumbernuss, die dreimalige Diskus-Weltmeisterin Franka Dietzsch. Wobei Kumbernuss und Dietzsch indirekt auch mit Negativschlagzeilen zu tun hatten, weil sie bei Dieter Kollark trainierten, dessen DDR-Vergangenheit zeitweise ein Thema war; unter anderem weil er IM der Stasi war. Die Geschichte des SCN ist kompliziert, und der Umgang damit auch. Bei der 50-Jahr-Feier vor drei Jahren hat Präsident Nostheide sich bei "möglichen Opfern" des DDR-Regimes beim SCN entschuldigt. Heute ist SC-Trainern und -Sportlern Doping per Vertrag verboten, ohne dass Nostheide daraus Illusionen ableiten würde. Gleichzeitig würde er sich freuen, wenn Katrin Krabbe wieder mehr mit dem SC zu tun haben wollte.

Wie kann man alte Helden ehren und dabei der Moral treu bleiben? Das ist eine große Frage beim SCN. So gesehen ist der Weggang von Anna Rüh tatsächlich nur eine Episode. Die regionalen Medien haben ausführlich berichtet über den Rüh-Wechsel, zumal auch deren Freund, der Kugelstoßer Dennis Lewke, nach Magdeburg geht, und ein weiterer Kugelstoßer, Christian Jagusch, künftig in Rostock trainiert. Der NDR meldete einen "Aderlass". Wenn der SCN Leistungsträger verliert, verliert halt oft auch das ganze Bundesland einen. "Das kennen wir schon", sagt Wendelstorf.

LEICHTATHLETIK: EM 1990 in Split

Beide Seiten des Leistungssports: Katrin Krabbe (hier 1990), Weltmeisterin und Hauptfigur in einer Dopingaffäre, entstammt auch dem SC Neubrandenburg.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Übertrieben findet er die Aufregung trotzdem, wenn er auf die Abteilungen Leichtathletik, Kanu und Triathlon schaut. Er zählt diverse Erfolge von U16 bis U23 auf, und Nostheide sagt: "Der Nachwuchs ist stark bei uns." Das einzige Problem: "Wir haben einen Knick in der Spitze." Was wiederum mit der 63 000-Seelen-Stadt Neubrandenburg zu tun hat, die ein durchaus erfolgreicher Wirtschaftsstandort im malerischen Landkreis Mecklenburger Seenplatte ist und für Leistungssportler nachgerade ein Paradies, in das die Stadt großzügig investierte. Das schicke, 1996 eröffnete Jahn-Sportforum beherbergt Leichtathletik-Halle und Werferkabinett, nebenan liegen Sportinternat, Sportgymnasium, Jahnstadion, gepflegte Rasenplätze. Und vor der SCN-Geschäftsstelle, verläuft ein neuer Kanal über den man direkt zum Tollensesee paddeln kann. "Topp", sagt Nostheide. Aber für junge Leute, die neben dem Sport studieren wollen, ist Neubrandenburg kein Bringer. Es ist das klassische Mecklenburg-Vorpommern-Problem. Die Jugend drängt raus aus der Provinz.

Dass Rüh weg wollte, ficht den Trainer Kollark nicht an. Er hat schon das nächste Talent

Dieter Kollark kann lange darüber philosophieren, was der Leistungssport bräuchte. Mehr Geld für mehr Trainer zum Beispiel statt Prachtbauten. "Sie können mit einer verrosteten Scheibenhantel trainieren oder mit einer vergoldeten, das ist dem Muskel egal", sagt er. Kollark ist mittlerweile 71 und anders als andere seiner Kollegen aus der DDR kein verdruckster Typ. Er hat seine Wahrheiten, arbeitet beim SCN für ein schmales Übungsleiter-Honorar und kennt seinen Anteil an dessen Erfolgen. Dass Anna Rüh von ihm wegwollte, ficht ihn deshalb nicht an. In Claudine Vita hat er längst das nächste Diskus-Talent in seiner Riege, außerdem steht er gerade in chinesischen Diensten; er trainiert eine Gruppe um Gong Lijiao, die WM-Zweite im Kugelstoßen. Dass der SCN gerade nicht in olympischer Form ist, sieht er auch. Er findet es trotzdem nur halb so wild, dass die Talente weggehen, denn "die bleiben dem deutschen Sport ja erhalten".

So gesehen ist der SCN mit seinen 1630 Mitgliedern und neun Abteilungen heute vielleicht gesünder als zu den großen Katrin-Krabbe-Zeiten. In den Neunzigerjahren ging es dem Verein wirklich schlecht. Heinrich Nostheide, damals Werkleiter bei Webasto, einem Zulieferer für die Fahrzeugindustrie, wurde 1997 als eine Art Nothelfer in den Vorstand gebeten, obwohl er noch gar nicht Vereinsmitglied war. 2001 wurde Wendelstorf hauptamtlicher Geschäftsführer. 2005 waren die Schulden weg. "Mit Sponsoren und strengem Wirtschaften", wie Nostheide sagt. Heute wirkt der SC Neubrandenburg wie ein in sich ruhender Koloss, der verstanden hat, dass er keine Anna dieser Welt und auch sonst niemanden für immer an sich binden kann.

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