Flüchtlinge in Deutschland:Warum das Mitleid verloren geht

Ankunft von Flüchtlingen am Bahnhof München

Retterin Merkel: Viele Flüchtlinge verehren die Bundeskanzlerin.

(Foto: Sven Hoppe/dpa)

Deutschland profitiert von den Flüchtlingen. Na und? Spielt das eine Rolle, wenn es um die Grenze der Belastbarkeit geht?

Ein Kommentar von Sebastian Gierke

Es hat sich etwas verändert in Deutschland.

Horst Seehofer droht in der Flüchtlingskrise mit "Notwehr". CDU-Vizechef Thomas Strobl sagt zu den Flüchtlingen: "Wir werden euch schnell wieder zurückschicken, und ihr werdet schnell wieder da sein, wo ihr hergekommen seid, nur ihr werdet noch ärmer sein." Und die Beliebtheitswerte der Kanzlerin rauschen in den Keller, weil sie - immer wieder - "Wir schaffen das" sagt.

Vor einem Monat dagegen wurde noch darüber diskutiert, ob die Willkommenseuphorie tatsächlich die Dominanz über die Stammtische gewonnen hat. "Fremdenmut" hat der Spiegel genannt, was wir damals erleben durften.

In einem Sommer der Hilfsbereitschaft dominierte das Pathos der Opfer und der Hilfesuchenden die Berichterstattung. Jetzt wird immer klarer: Die Willkommenseuphorie, so ermutigend sie war und immer noch ist, kann nicht einfach so in Willkommenskultur verwandelt werden. Und der Stammtisch, er schlägt zurück.

Mitgefühl wird gebrandmarkt als Eigenschaft "naiver Gutmenschen". Als Eigenschaft von Träumern, die willentlich oder nicht, Deutschland verraten. Oder zumindest überfordern. "Wir können doch nicht alle aufnehmen." Ein dümmlich-alarmistisches Mantra.

Woher kommt dieser Stimmungsumschwung? Und warum kommt er mit solch erbarmungsloser Wucht?

Als die Züge in München einfuhren, entstand ein Hype, auch in den Medien, der die Hilfsbereitschaft in den Mittelpunkt und die sich anschließenden Probleme an den Rand gestellt hat. Auf einen Hype folgt eine Gegenbewegung. Doch das allein erklärt die Geschwindigkeit und Heftigkeit nicht.

Beruhigt euch

Die Bilder von helfenden Menschen haben darüber hinweggetäuscht, dass es nur ein kleiner Bruchteil der Bevölkerung war, der zum Beispiel am Münchner Hauptbahnhof Hilfsgüter verteilt hat. Der weitaus größere Teil der Menschen verfolgte das Geschehen vom Sofa aus. Und einige wurden unruhig, als sie die Neuankömmlinge im Fernsehen erblickten. Deshalb wurde immer wieder der Nutzen, den diese für Deutschland haben, betont. Es ging um Demografie und Arbeitskraft. Die Botschaft: Es sind die Flüchtlinge von heute, die die Renten deiner Kinder und Enkel bezahlen. Also beruhigt euch - und genießt.

Das Argument des Egoisten

Tatsächlich sind es - auch - die Flüchtlinge von heute, die die Renten unsere Kinder und Enkel bezahlen werden.

Doch in der Debatte wurde das an sich richtige Argument zu wichtig, zu groß. Denn es ist das Argument, für das es kein Mitleid braucht. Es ist auch das Argument des Egoisten. Des Menschen in der Konsumgesellschaft mit entsprechend narzisstischer Prägung und mit einem Hang nicht zu Irrationalität sondern zu hysterischer Überrationalität. So oft wurde das Argument ins Feld geführt, dass man fast glauben konnte, wir lebten in einem Land, in dem kaum einer für Flüchtlinge einträte, fiele dabei nicht auch was für uns ab.

Dabei ist klar: Es werden Belastungen auf Deutschland zukommen. Die Auswirkungen dessen, was gerade passiert, lassen sich nicht verdrängen, indem man sie romantisiert.

Was machen die Hilfesuchenden mit diesem Land? Das wird die zentrale Frage der kommenden Jahre werden. Und einige der Antworten werden nicht angenehm sein.

Was macht das Land mit den Flüchtlingen? Das ist die Frage, die wir jetzt beantworten müssen. Nicht nur die Politiker, auch die Bürger.

Viele, zum Teil sehr kluge Skeptiker warten nur darauf, dass es schiefgeht: Ein paar Schlägereien in Flüchtlingsheimen? Seht ihr! Ein paar falsche syrische Pässe an der Grenze? Hab ich´s nicht gesagt!?

Diese Bedenkenträger stellen Forderungen nur deshalb auf, weil sie sich bestätigt sehen wollen, wenn andere den Forderungen nicht genügen. Sie fordern die sofortige Abschiebung von Tausenden Hilfesuchenden, sie fordern die sofortige Assimilation von denen, die trotzdem hierbleiben. Sie fordern keine Ausnahmen im absoluten Ausnahmezustand. Sie stellen keine Forderungen aus Hoffnung. Und verfallen aus Feigheit in Zynismus. Auch deshalb bestimmen emphatische, positive Konzepte der Zukunft Deutschlands als Einwanderungsland gerade nicht die Debatte.

Das Land wird sich durch den Zuzug der Flüchtlinge verändern. Ganz grundsätzlich. So wie es das immer wieder getan hat. Im Moment etwas schneller und gründlicher also noch vor einigen Jahren. Und doch ist das eine Selbstverständlichkeit angesichts der Monstrosität, die beispielsweise der Krieg in Syrien darstellt. Eine Selbstverständlichkeit, die einem immer häufiger als Zumutung verkauft wird.

Es ist einer dieser Augenblicke

Wir stehen in Deutschland vor einer epochalen Wende. Und das Leben aller soll seinen gewohnten Gang gehen? Nein, Normalität und Ausnahmezustand durchdringen sich. Für die meisten scheint alles wie immer, doch nichts ist wie sonst. Das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns befinden. Einfach weiter verwaltet werden von einer großen Koalition? Die nationalen Herausforderungen ohne eigenes Zutun bewältigt bekommen? Das wird nicht gehen. Sich auf nationale Dumpfheiten zurückziehen auch nicht.

Es ist einer dieser Augenblicke, in dem alles möglich ist. Das Schlechteste und das Beste.

Wollen wir das Schlechteste abwenden, müssen wir den Veränderungen mit bezwingender Aufgeschlossenheit gegenübertreten. Und eben nicht nur nach den Kosten fragen. Und dem möglichen Nutzen. Die Logik der Ökonomie, die algebraische Logik, in der alle Werte auf wahr oder falsch reduziert werden können, sie hilft hier nur sehr begrenzt weiter.

Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands, die Politiker gerade im Dutzend verbal zu errichten versuchen, ist nicht da erreicht, wo das eigene Leben, der eigene Alltag betroffen ist. An die Menschlichkeit zu appellieren und Zuversicht einzufordern, ist nicht naiv.

Es sieht so aus, als ginge in den vergangenen Wochen bei immer mehr Menschen die Fähigkeit zur Empathie und Emphase verloren, wenn es um Flüchlinge geht. Dabei sind genau das die Fähigkeiten, die diesen Augenblick rückblickend zu einem der besten der jüngeren deutschen Geschichte machen können.

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