Taktik im Fußball:Lang ist die neue Kunstform

Republic of Ireland v Germany - UEFA EURO 2016 Qualifier

Bereit einen langen Pass zu spielen: Jérôme Boateng.

(Foto: Bongarts/Getty Images)

Im Spiel zwischen Irland und Deutschland bestätigt sich ein Trend: Der weite Ball erlebt sein Comeback - und zwar nicht als ordinärer Befreiungsschlag.

Kommentar von Christof Kneer

Für die Geschichtsschreibung ist es wichtig zu wissen, dass der große Günter Netzer niemals lange Bälle spielte. Günter Netzer spielte weite Pässe, was ein gewaltiger Unterschied ist. Der Unterschied besteht darin, dass weite Pässe ein Kunstwerk sind, sie werden von wenigen, vom Schicksal dafür ausersehenen Genies in die Luft gemalt. Weite Pässe sind ein Produkt großer Geister, sie sind ein überlegenes strategisches Mittel, das absichtsvoll angewandt wird, um den Gegner zu erniedrigen. Lange Bälle dagegen sind das komplette Gegenteil. Sie sind ein Ausdruck niedriger Gesinnung, ein Anschlag auf den guten Geschmack und bestenfalls Notwehr. Oder?

Darren Randolph, 28, ist bisher noch nicht als großer Geist des Fußballs aufgefallen, was mindestens zwei Gründe hat. Erstens spielt er nur bei West Ham United, und zweitens auch noch im Tor. Es war also wohl kein kunstvoller weiter Pass, sondern nur ein primitiver langer Ball, den Randolph im Länderspiel gegen Deutschland auf die Reise geschickt hat. Der lange Ball überflog Mats Hummels, Jonas Hector sowie den vergeblich zu Hilfe eilenden Jérôme Boateng, und er plumpste so unverschämt in den Laufweg eines irischen Stürmers hinein, dass der bestimmt gar nicht anders konnte, als den Ball ins Tor zu schießen. Mit anderen Worten: Ein Zufallsprodukt. Oder?

Der lange Ball hat inzwischen was von Günter Netzer

Es wird allmählich Zeit, dass sich auch die Ästheten an jene Entwicklung gewöhnen, die seit dieser Woche nicht mehr zu übersehen ist: Der weite Pass und der lange Ball sind dabei zu fusionieren. Der lange Ball hat in dieser Woche auf großer Bühne sein Comeback gefeiert, und zwar nicht in seiner früheren Erscheinungsform als ordinärer Befreiungsschlag. Wer nicht nur Darren Randolphs Hoch-Weit-Pass sah, sondern auch zwei jener Tore, mit denen der FC Bayern den BVB mit 5:1 besiegt hat, der kommt um die Erkenntnis nicht mehr herum: Der lange Ball hat inzwischen was von Günter Netzer.

Bayern gegen Dortmund, Irland gegen Deutschland: Verdichtet auf zwei Spiele lässt sich erkennen, dass der lange Ball gerade dabei ist, umfassend gesellschaftsfähig zu werden. Er ist jetzt nicht mehr nur das Stilmittel der klassischen irischen Außenseiter, sozusagen der Kurzpass des kleinen Mannes. Der lange Ball hat es jetzt auch ins Repertoire von Teams geschafft, die sich kürzlich noch für ihn geniert hätten. Jérôme Boateng etwa spielt diese Bälle inzwischen mit großer Wonne und ausdrücklicher Genehmigung seines Trainers Guardiola, dem noch in Barcelona kein Pass kurz genug sein konnte.

Taktisches Mittel bei Stau

Der lange Ball ist dabei, sich als verführerische Abkürzung zu etablieren, die sich dann empfiehlt, wenn man im Stau von tausend kompakt pressenden Abwehrbeinen nicht mehr vorankommt. Im modernen Fußball hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man den Gegner am günstigsten dann erwischt, wenn er gerade den Ball eingebüßt und seine Verteidigung noch nicht organisiert hat - wie die DFB-Elf nach Marco Reus' Ballverlust, den Darren Randolph zum langen Ball/weiten Pass nutzte.

Es ist eine ironische Fußnote, dass immer Mats Hummels im Zentrum dieser Entwicklung steht. In Dortmund hat er den langen Ball schon kenntnisreich gespielt, als er bei Spitzenteams (und bei Jogi Löw) noch auf dem Index stand; und neuerdings bestätigt Hummels die Gefährlichkeit dieses Stilmittels, indem es ihm beständig nicht gelingt, die langen Bälle des Gegners zu verteidigen.

Es muss Hummels besonders treffen, dass der Fußball jetzt schon alberne Witze mit ihm macht. Der schöne lange Ball hat es sich nicht nehmen lassen, das Tor durch einen Spieler namens Shane Long erzielen zu lassen.

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