Nach Anschlag in Ankara:Blutiger Wahlkampf

Demonstrators attend a protest against explosions during a peace march in Ankara, in central Istanbul,

Die Polizei setzt Tränengas gegen Demonstranten in Istanbul ein. Nach dem Anschlag von Ankara, bei dem am Morgen 86 Menschen starben, gab es in mehreren Städten Protestmärsche.

(Foto: REUTERS)
  • Die PKK, der IS oder Linksradikale - die türkische Regierung ermittelt nach dem Anschlag von Ankara mit mindestens 95 Toten in drei Richtungen.
  • Die pro-kurdische Partei HDP sieht sich als Ziel des Anschlages.
  • In mehreren türkischen Städten gibt es Demonstrationen gegen die Regierung.

Von Oliver Klasen

Die Zahl der Toten steigt von Stunde zu Stunde. Am Abend steht fest: Es ist der schwerste Anschlag, der jemals in der türkischen Hauptstadt verübt worden ist. Mindestens 95 Menschen sind tot, Teilnehmer einer Friedensdemonstration, gestorben infolge zweier gewaltiger Detonationen, die um kurz nach 10 Uhr Ortszeit die Umgebung des Hauptbahnhofs von Ankara erschütterten.

Die Regierung reagiert. Sie verurteilt die Tat als "abscheulichen Anschlag auf Einheit und Frieden des Landes" (Präsident Erdoğan) oder als "Terrorakt gegen Staat, Demokratie und das türkische Volk" (Innenminister Altinok), sie ruft eine dreitätige Staatstrauer aus, Ministerpräsident Ahmet Davutoglu beruft eine Krisensitzung ein und lässt den Wahlkampf für die am 1. November angesetzte Parlamentswahl unterbrechen.

Aber sie tut noch mehr: Mittels eines Erlasses versucht sie, jegliche Berichterstattung über den Anschlag in Ankara zu unterbinden. Der RTÜK, der oberste Radio- und Fernsehrat der Türkei, verbreitet am Nachmittag eine Anweisung, an die sich alle privaten Sender im Land zu halten hätten. (Die Staatssender stehen ohnehin unter der Kontrolle der Regierung.)

Die Zeitung Cumhuriyet hat den Brief veröffentlicht. Es sind acht dürre Zeilen, mit denen die Erdoğan-Regierung Sicherheit und Ordnung herstellen will. Eine Ordnung, die sie vor allem dadurch gewährleistet sieht, dass keine missliebigen Berichte erscheinen und Journalisten nicht allzu kritisch nachfragen.

Proteste in Istanbul und Diyarbakır

Doch es deutet sich an, dass die Kontrollstrategie der Regierung diesmal nicht funktioniert. Zahlreiche Medien, darunter der von oppositionellen Kräften beeinflusste Sender Halk TV, berichten trotzdem über die Bluttat von Ankara, einige Sender sogar direkt von dort, wo sich die Explosionen ereignet haben. Auch die Online-Ausgaben der größten türkischen Zeitungen beugen sich nicht der Anweisung - jedenfalls noch nicht.

Außerdem formieren sich am Nachmittag Proteste gegen die Regierung: In Istanbul gehen etwa 10 000 Menschen auf die Straße. Sie versammeln sich in der Innenstadt, skandieren "Dieb - Mörder - Erdoğan". Die Polizei begleitet die Proteste mit einem massiven Aufgebot, schreitet aber nicht ein. Auch in der im Südosten gelegenen, mehrheitlich von Kurden bewohnten Stadt Diyarbakır hat es offenbar Proteste gegeben. Bilder der Nachrichtenagenturen zeigen, dass die Polizei dort Wasserwerfer und Tränengas gegen Demonstranten eingesetzt hat. Weitere Massenkundgebungen finden nach Angaben der Nachrichtenagentur Dogan in den Städten Izmir, Batman, Urfa und Van statt.

Und via Twitter verbreitet sich, dass einige Menschen auch in Ankara am Ort des Anschlages demonstrieren - gegen die Regierung und gegen Polizisten, die Sanitäter bei der Arbeit behindern. Zwar ist der Kurznachrichtendienst derzeit in der Türkei nur über Umwege zu erreichen. Doch Regierungskritiker sind es gewohnt, dass die Erdoğan-Regierung Twitter und andere soziale Medien unter Hinweis auf angebliche Sicherheitsgründe nach Gutdünken sperrt. Deshalb nutzen sie Proxy-Server, die den Nutzer vor der Analyse seines Datenverkehrs schützen.

Währenddessen zeigt der staatliche Sender TNT ausgiebig Ministerstatements und Pressekonferenzen der Regierung. Die Zuschauer erfahren, dass die Regierung derzeit in drei Richtungen ermittelt, was die Urheber des Anschlages betrifft. Verdächtig seien die kurdische Arbeiterpartei PKK, die Extremisten-Miliz Islamischer Staat (IS) und die linksradikale DHKP-C, sagt Ministerpräsident Ahmet Davutoglu. Es gebe deutliche Hinweise darauf, dass das Attentat von zwei Selbstmordattentätern verübt worden sei.

"Ihr seid Mörder. An euren Händen klebt Blut"

Explosions Hit Peace Rally In Ankara

In Ankara versammelten sich regierungskritische Gruppen am Morgen zu einem Protestmarsch, als plötzlich zwei Sprengsätze explodierten. Sicherheitskräfte gingen danach gegen Demonstranten vor.

(Foto: Getty images)

Die pro-kurdische HDP will diese Version nicht glauben. Sie sieht sich selbst als Ziel des Anschlages. Denn sie ist eine der Organisationen, die zu der Friedenskundgebung am Morgen aufgerufen hatte. Viele der Leichen, die nach dem Anschlag auf dem Boden lagen, waren mit Flaggen zugedeckt, die das Symbol der HDP zeigten.

"Das ist kein Angriff auf die Einheit unseres Landes oder dergleichen, sondern ein Angriff des Staates auf das Volk. Ihr seid Mörder. An Euren Händen klebt Blut", sagte Selahattin Demirtaş, einer der beiden Vorsitzenden der HDP, nach dem Anschlag in Richtung der AKP-Regierung.

Die HDP wirft Präsident Erdoğan und seiner islamisch-konservativen AKP vor, den Konflikt mit der PKK absichtlich zu verschärfen. Eigentlich war der Friedensprozess mit den Kurden bereits weit fortgeschritten, doch seit Juli ist die Lage wieder eskaliert: Erdoğans Regierung lässt Stellungen der PKK bombardieren. Im Gegenzug haben die Rebellen Anschläge verübt und sollen mehr als 100 türkische Sicherheitskräfte getötet haben.

Erdoğan inszeniert sich als starke Führungspersönlichkeit

Die Regierungskritiker gehen davon aus, das Erdoğan das neuerliche Aufflammen des Konfliktes mit den Kurden gerade recht kommt. So kann er sich als starke Führungspersönlichkeit inszenieren, der das Land in Zeiten des Chaos sicher lenkt.

Im Juni schien Erdoğans lange unangefochtene Macht zum ersten Mal seit Jahren gefährdet. Bei den Parlamentswahlen war die HDP damals als erste pro-kurdische Partei überhaupt ins Parlament eingezogen. Sie konnte damals auch außerhalb der Kurdengebiete im Südosten viele Wähler gewinnen, die in ihr ein Gegengewicht zur AKP sahen. Weil in der Türkei eine Zehn-Prozent-Hürde gilt und die Opposition seit Jahren zerstritten ist, gab es lange keine ernstzunehmende Konkurrenz für die Erdoğan-Partei.

Wenn es das Kalkül des Präsidenten ist, die HDP durch die Eskalation im Kurdenkonflikt zu schwächen, ist es bisher allerdings nicht aufgegangen. Meinungsforschungsinstituten zufolge liegt die HDP noch immer stabil über zehn Prozent.

Doch alle Umfragen sind vor dem Anschlag von Ankara erhoben worden.

Mitarbeit: Deniz Aykanat

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