Türkei:Furchtbarer Verdacht offenbart das Misstrauen gegenüber der AKP

Türkei: Das Misstrauen ist gewaltig: Eine Menschenmenge trägt in Diyarbakır einen Politiker der prokurdischen HDP zu Grabe, der bei dem Anschlag am vergangenen Samstag ums Leben kam.

Das Misstrauen ist gewaltig: Eine Menschenmenge trägt in Diyarbakır einen Politiker der prokurdischen HDP zu Grabe, der bei dem Anschlag am vergangenen Samstag ums Leben kam.

(Foto: AFP)

Die türkische AKP war mal eine Reformpartei. Nach dem Anschlag in Ankara zeigt sich, wie sehr sie die Hoffnungen enttäuscht hat.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Der Politiker ist aufgebracht, empört fast schon. Er ruft seinen Anhängern bei der Kundgebung in Istanbul zu: "Wir haben keine unabhängige Justiz. Auf unsere Gerichte ist der dunkle Schatten der Politik gefallen." Der Mann ist noch nicht fertig: "Wir leben in einem repressiven und totalitären System, das die Meinungs- und Pressefreiheit ebenso unterdrückt wie fast alle anderen Menschenrechte." Die Hoffnung hat er noch nicht aufgegeben. Er ist ja auch noch jung, in den Vierzigern. Sein politischer Aufstieg hat gerade erst begonnen. "Eines Tages wird es auch in unserem Land Freiheit und Menschenrechte geben." Diese Sätze könnten von heute sein. Tatsächlich fielen sie schon Ende der Neunzigerjahre.

Am Samstag haben zwei Selbstmordattentäter mitten in Ankara fast 100 Menschen mit sich in den Tod gerissen. Mehr als 500 Menschen wurden verletzt. Sie wollten an einer Friedensdemo teilnehmen, die von regierungskritischen Gruppen organisiert worden war. Um das Ausmaß dieser Katastrophe zu verstehen, hilft es, sich an die Sätze des wütenden Politikers zu erinnern: Sie stammen von Recep Tayyip Erdoğan, dem heutigen Staatspräsidenten. Erdoğan versprach, aus der Türkei - damals eine Dunkelkammer des Rechts - ein besseres Land zu machen.

Der Verdacht ist ungeheuerlich

Erdoğan wollte einen Staat, in dem die Bürger ihrer Regierung wieder vertrauen können. Nicht ohne Grund wählte die Partei, die er später gründen sollte, die AKP, eine Glühlampe als Parteisymbol. "Macht das Licht an, die Türkei soll heller werden" - mit diesem Slogan wirbt die Partei auch noch im Jahr 2015. Aber in der Türkei ist es wieder so dunkel wie lange nicht mehr.

Tausende Demonstranten marschierten nach dem Attentat vom Samstag durch die Straßen Istanbuls und Ankaras, sie riefen: "Mörder Erdoğan!" Sie hegen einen ungeheuerlichen Verdacht, der viel über den Zustand des Landes aussagt: Der Staat selbst könnte hinter dem Anschlag von Ankara stehen, dem größten in der jüngeren Geschichte des Landes. Der Vorsitzende der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP, Selahattin Demirtaş, sagte, er wolle ja in dieser so traurigen Stunde für das Land mit anderen Politikern Geschlossenheit demonstrieren, aber mit der AKP ginge das absolut nicht. "An euren Händen klebt Blut." Heute ist es Demirtaş, der sich anhört wie der junge Erdoğan. Und der beklagt, was Erdoğan einst beklagte.

Die AKP ist nicht mehr attraktiv

Im Jahr 2015 klammert sich die AKP verzweifelt an die Macht. Am 1. November wählt die Türkei zum zweiten Mal in diesem Jahr ein neues Parlament. Dabei geht es um die Zukunft der AKP, Erdoğan lässt die Abstimmung vom 7. Juni wiederholen. Damals hatte die AKP das erste Mal in ihrer Geschichte die absolute Mehrheit verloren, sie konnte nicht mehr alleine regieren. Die HDP hatte mit 13 Prozent den Sprung ins Parlament überraschend klar geschafft. In der AKP macht man die HDP für die eigene Niederlage verantwortlich. Die Versuche, eine Koalitionsregierung zu bilden, scheiterten.

Erdoğan rief Neuwahlen aus, außerdem führte er die Türkei in einen Anti-Terror-Kampf gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und die Terrormiliz Islamischer Staat. Er will Stärke demonstrieren, aber in den Umfragen kommt Erdoğans AKP nicht vom Fleck. Viel von dem, was die Partei einst attraktiv gemacht hat, existiert heute nicht mehr. Wirtschaftlich hat die Türkei ihre Boom-Jahre hinter sich. Die Beziehungen zu fast allen Nachbarn sind gestört.

Die Zeiten, in denen "dunkle Mächte" wie der sogenannte Tiefe Staat, ein konspiratives Netzwerk aus Staatsvertretern und organisiertem Verbrechen, im Hintergrund die Fäden zogen, schienen mit der AKP überwunden zu sein. Das jedenfalls war die Hoffnung. Aber in den 13 Jahren an der Macht hat die AKP alle Schlüsselstellen bis tief hinein in die Kapillaren des Staates selbst besetzt. Wer wissen will, warum heute das Misstrauen in Erdoğans Staat so tief sitzt, muss sich nur ansehen, wie Staatsanwälte versetzt wurden, die Korruptionsermittlungen gegen ranghohe Regierungsmitglieder führten.

Als die linksliberale Cumhuriyet vor der Juni-Wahl über angebliche Waffenlieferungen per Lkw an syrische IS-Kämpfer berichtete, ging die Regierung gegen den Chefredakteur vor. Premier Ahmet Davutoğlu sagte, was in diesen Lastern ist, gehe niemanden etwas an. Im neu aufgeflammten Konflikt mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK werde man die Organisation "auslöschen". Polizisten sahen sich kürzlich veranlasst, den Leichnam eines kurdischen Kämpfers mit einem Strick an ihr Auto zu binden und hinter sich her durch die Straßen zu schleifen.

Die Außenwahrnehmung scheint Erdoğan nicht mehr zu kümmern

Ist diesem Staat denn wirklich alles zuzutrauen? Um die Außenwahrnehmung scheint sich Erdoğan jedenfalls nicht mehr zu kümmern. In seiner Heimatprovinz Rize trat vor wenigen Tagen Sedat Peker auf, ein 2014 aus der Haft entlassener Mafiaboss und extremer Nationalist. Als Erdoğan-Unterstützer hatte ausgerechnet er zu einer Kundgebung gegen den Terror aufgerufen. Türkische Medien zitieren ihn mit den Worten: "Wir werden niemanden töten. Aber wenn wir gezwungen sind, uns zu verteidigen, dann wird das Blut in Strömen fließen." Wenn Erdoğan in die Knie gezwungen werde, dann gehe die ganze Türkei mit ihm.

Zwei Tage später fließt tatsächlich Blut in Strömen - in Ankara. Man kann keinen Zusammenhang zwischen diesem Auftritt und den Anschlag herstellen. Der Fall zeigt aber, mit wem sich Erdoğan mittlerweile umgibt. Faik Bakoğlu, langjähriger Redakteur der in Rize erscheinenden Tageszeitung Zümrüt Rize, wundert sich: "Rize ist die Stadt des Präsidenten. Wie können solche Leute hier eine Demo abhalten?"

Die AKP hat sich verändert. Als sie 2002 an die Regierung kam, wurde ihr noch das Etikett "Reformpartei" angeheftet. Das waren die Jahre, in denen Erdoğan mit seinem Land nach Europa strebte und bereit war, für den EU-Beitritt der Türkei das Land zu modernisieren. Heute hat die AKP nur noch einen einzigen Programmpunkt zu bieten. Auf ihrem Parteitag im September drehte sich alles nur noch um Erdoğan. Einstige Gefährten wie den Staatspräsidenten Abdullah Gül hat er kaltgestellt. Die AKP ist zur Erdoğan-Partei zusammengeschrumpft. Ahmet Davutoğlu hat als Partei- und Regierungschef Platzhalterfunktion. Direkt nach seiner Rede auf dem Parteitag leerte sich die Versammlungshalle in Ankara. Die AKP begeistert nicht mehr.

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