Ausstellung "Flucht und Einheit":Jeder kann ein Flüchtling sein

Alle reden derzeit über Asylsuchende. Dabei leben Flüchtlinge schon lange unter uns, wie eine Berliner Ausstellung zeigt. Manche von ihnen haben Deutschland nie verlassen.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Dies ist ein bekanntes Stadtbild, es könnte aus einer beliebigen deutschen Großstadt handeln, auch vor der Flüchtlingskrise: Eine ältere Frau, gebückt und am Stock, den Kopf gesenkt, bettelt zwischen jungen, beschwingten Leuten, die sie kaum wahrnehmen und mit ihrem eigenen Leben beschäftigt sind.

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Wie man persönlich zu Bettlern steht, ist auch Einstellungssache, manchmal von Erfahrungen, manchmal von Unwissen geprägt. Nicht wenige, zumal in München, sehen in den immer ähnlichen Figuren Kriminelle. Dass es auch in Deutschland Armut gibt, die nicht durch das soziale Netz aufgefangen wird, wird oft ausgeblendet. Untrennbar gehören Arme zum Stadtbild deutscher Großstädte, und der Fotograf Lutz Müller-Bohlen hat sie und weitere sogenannte Außenseiter in Berlin und anderen Städten abgelichtet. Zusammen mit Bildern des Berliner Fotografen Günther Schaefer sind sie Teil einer Netz-Ausstellung zu "Flucht und Einheit" aus Berlin, die sich mit dem Thema beschäftigt, wie politische Konstellationen in das Leben des Einzelnen hineinwirken. Und die daran erinnert, dass Flucht nicht nur die Hundertausende betrifft, die derzeit aus Kriegsgebieten und ärmeren Teilen der Welt nach Deutschland kommen. Sondern dass auch die Deutschen schon oft Flüchtlinge waren - und manche es jetzt sind. Die einen bewusst, die anderen unbewusst. Weil man nicht nur aus einem Land fliehen kann, sondern auch aus einem Heimatort, einer Familie, beengenden Umständen, Rollenzuschreibungen oder politischen Verhältnissen.

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Nicht immer geht das gut. So mancher Geflohene findet sich am Ende auf der Straße wieder, losgesagt von allem, was ihn beengte, aber auch losgesagt von einer Gesellschaft, die Schutz bieten kann. Im Bild ein deutscher Obdachloser, der neben der frischen Warenauslage am Stand neben seinem Obdach steht. Ihm, wie auch den anderen Armen, Obdachlosen, Ausgegrenzten zahlt Fotograf Müller-Bohlen jeweils fünf Euro für die Aufnahme.

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Natürlich gibt es auch das romantisierende Bild vom Leben auf der Straße, vom freien Vagabunden. Losgelöst von gesellschaftlichen Verpflichtungen und selbst auferlegten Zwängen. Doch die Bilder von Lutz Müller-Bohlen zeigen eher, ...

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

... dass Armut den Menschen, die manchmal mit ihrem letzten Hab und Gut durch die Straßen ziehen - ob nun aus dem deutschen oder einem anderen Kulturkreis -, die Würde nimmt, die Perspektive raubt, den Lebensmut schwinden lässt, ...

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

... und oft auch den Stolz. Im Bild eine Bettlerin, die sich neben einem Luxus-Modegeschäft platziert hat. In München werden Bettler und allzu offensichtliche Armut aus dem Stadtbild ferngehalten, in Berlin und anderen Städten gehören sie ganz selbstverständlich dazu.

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Gerade in der Hauptstadt leben und stranden viele, die sich der Gesellschaft und ihren Bräuchen nicht zugehörig fühlen, und wohnen als Punks oder politisch anderweitig Verortete auf der Straße, in Kommunen, in Banden oder mal hier, mal da. "Vertraue niemandem, der glaubt, du seist verrückt!", hat sich der junge Mann auf seine Lederjacke geschrieben. Ein Motto, mit dem sich auch der Fotograf Müller-Bohlen schon lange beschäftigt.

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Der gebürtige Flensburger hat lange als Pfleger, später als Dozent im Bereich der Psychiatrie gearbeitet und ist auch heute dort tätig, inzwischen unterstützt er Psychiatrie-Projekte als Künstler. Dem 52-jährigen, der auch für diverse Agenturen als People- und Konzertfotograf arbeitet, ist es seither ein Anliegen, mit seinen künstlerischen Arbeiten darauf aufmerksam zu machen, dass es ein Leben jenseits der sogenannten Norm gibt - wie den Straßenkünstler auf diesem Foto. Und dass genau andersherum, als es die herrschende Meinung vorgibt, sich vermeintlich Normale manchmal eher in vielfältigsten Zwangsjacken bewegen als die "Ver-rückten".

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Der Fotograf zeigt Straßenmusiker und Obdachlose, Outlaws und Straßenkinder. Der Erlös seiner Bilder fließt in soziale Projekte. Das Ziel Müller-Bohlens: "Die zutiefst respektvolle Darstellung von Menschen in ihrer Schönheit und Einzigartigkeit, ausgeschlossen am Rande der gesellschaftlichen Normalität, in gesellschaftlicher Stigmatisierung und letztlich tiefster Melancholie." Und er kritisiert: "Wo Hinwendung und Nächstenliebe geboten wären, gibt es Etikettierung und Sachorientierung."

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(Foto: Günther Schaefer)

Ähnliche Kritik wird auch in der aktuellen Flüchtlingsdebatte laut. Die Ausstellung soll sich deshalb explizit auch auf die Flüchtlinge beziehen, die derzeit nach Deutschland kommen - auch wenn es auf den Fotos vor allem um Menschen geht, die schon länger als Armutsflüchtlinge hier leben oder in der Vergangenheit innerhalb Deutschlands geflohen sind. Wie Udo Düllick, der - zunächst - unbekannte Flüchtling, der 1961 auf seiner Flucht von Ost- nach Westberlin in der Spree unter Beschuss ertrank, und dem dieser Gedenkstein in Berlin-Kreuzberg gewidmet wurde. Viele Deutsche haben Flüchtlingsgeschichten in ihrer eigenen Familie, daran erinnert Günther Schäfer, 61, der als Kind an der innerdeutschen Grenze in Franken aufwuchs. Seine Familie lebte auf beiden Seiten, sonntags traf man sich zum gegenseitigen Herüberwinken mit weißen Fähnchen an einer Besucherplattform an der Grenze. Diese Grenzerfahrung hat ihn tief geprägt. Er lebte in New York und ging nach der Maueröffnung nach Berlin, wo er seitdem die einst geteilte Hauptstadt in einem fotografischen Langzeitprojekt begleitet.

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(Foto: Günther Schaefer)

Seine Homepage ist ein fotografisches Archiv der neueren deutschen Geschichte, deutlich erkennbar war Schäfer vor allem von der Zeit des Mauerfalls bewegt. Wie von diesem Bild, das er im November 1989 am Brandenburger Tor von einem DDR-Grenzposten im Dienst machte, der ihm sagte: "Du bist ein Grenzverletzer, noch gestern hätte ich dich dafür erschossen!"

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(Foto: Günther Schaefer)

Ganz anders dieser DDR-Grenzposten, ebenfalls am Brandenburger Tor, einen Monat später, an Neujahr: "Endlich darf ich freundlich zu den Menschen sein!"

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(Foto: Günter Schaefer)

Es ist noch nicht allzu lange her, dass an der deutsch-deutschen Grenze DRR-Flüchtlinge erschossen wurden. Daran erinnert in der Ausstellung dieses Foto von Mahnkreuzen, 1990 im Berliner Wedding.

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(Foto: Günther Schaefer)

Denn natürlich sind Flüchtlinge in erster Linie Menschen - das wollen die Fotografen mit ihrer Ausstellung deutlich machen. Egal, woher sie kommen. Und egal, welche Politik oder Umstände sie gerade dazu bewegen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Im Bild: Öffnung der Mauer im Dezember 1989. DDR-Bürger werden übers Brandenburger Tor gereicht, die Untenstehenden applaudieren.

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(Foto: Lutz Müller-Bohlen)

Vertreibung und Ausgrenzung, wie sie in ihrer schlimmsten Konsequenz zu Zeiten des Nationalsozialismus herrschten, sind auch im Berlin der Jetzt-Zeit ein Thema. Der Betreiber des Kultur-Kinos Babylon hat die Fassade selbst mit Davidsternen besprüht und ein Plakat aufgehängt: "Teutsche! Kauft nicht im Babylon!" Damit reagiert Geschäftsführer Timothy Grossmann, selbst jüdischer Abstammung, auf Streiks seiner Mitarbeiter, die vor der Tür mehr Lohn fordern und die Gäste auffordern, woanders hinzugehen. Die Hauptstadtpresse und auch gebuchte Künstler reagieren verschnupft auf dieses "Totschlagargument" des Betreibers, der dennoch dadurch Aufmerksamkeit für sein Anliegen erzielt. Bis heute sind die Verbrechen der Deutschen ein Politikum und ziehen nach wie vor ihre Kreise, auch dies zeigt das aktuelle Foto aus der Ausstellung.

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(Foto: Günther Schaefer)

Und nun? Dieser wilde fotografische Ritt durch deutsche Vergangenheit und Gegenwart der beiden Fotografen zeigt unter der Überschrift "Flucht und Einheit" vor allem eines: Zum Guten wendet sich eine politische Krise eher dann, wenn sich die Bevölkerung mit Menschen solidarisch zeigt - mit Ausgestoßenen, Armen oder eben Flüchtlingen.

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