Neue Heimat in Oberbayern:Zuflucht mit Familienanschluss

Flüchtling Mühlhans Ermiyas

Gemeinsam kochen, gemeinsam essen: Nach Monaten auf der Flucht erlebt Ermiyas Temanu im Haus von Christine Schwarm und Rudi Mühlhans wieder Alltag.

(Foto: Manfred Neubauer)

In Benediktbeuern haben Pflegeeltern einen minderjährigen Flüchtling aufgenommen. Sie empfinden das Zusammenleben mit dem 16-jährigen Eritreer als große Bereicherung - trotz einiger Missverständnisse.

Von Pia Ratzesberger, Benediktbeuern

Nichts hat er mitnehmen können bei der Flucht aus der Heimat, doch die Bilder von seinem Zuhause sind immer noch da. Nicht nur im Kopf, in der Erinnerung, sondern auch hier am Computerbildschirm, für alle sichtbar. "Hier ist es", sagt Ermiyas Temanu und deutet auf ein graues Dach, in der Nähe der eritreischen Stadt Senafe.

Mehr als 4500 Kilometer Luftlinie ist dieses Dach von dem Einfamilienhaus in Benediktbeuern entfernt, in dem Temanu sitzt, in seinem Zimmer im ersten Stock. Mehr als fünf Monate Flucht durch Äthiopien, Sudan, Libyen und über das Meer liegen für den 16-Jährigen zwischen diesem Zimmer und seiner Heimat im Süden Eritreas.

Rudi Mühlhans und seine Frau Christine Schwarm haben Temanu aufgenommen; der Sozialpädagoge und die Erzieherin sind damit die erste Pflegefamilie im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen, die einen minderjährigen unbegleiteten Flüchtling beherbergt. Die beiden haben drei eigene Kinder und hatten über Jahre hinweg immer wieder Kinder in Pflege.

Als die älteste Tochter auszog, war ein Zimmer frei

Als die älteste leibliche Tochter im vergangenen Jahr auszog, beschloss die Familie, das freie Zimmer einem Flüchtling anzubieten. Bisher hatte das Jugendamt Bad Tölz diese Möglichkeit der Unterbringung für Geflohene wenig forciert, jetzt aber sollen im Kreis nach Möglichkeit mehr jugendliche Asylbewerber in Pflegefamilien kommen - denn die Zahl der Zufluchtssuchenden steigt.

"Als wir am ersten Tag gemeinsam hier am Esstisch saßen, hatten wir extra Kartoffeln zubereitet, weil die Dolmetscherin gesagt hatte, dass Ermiyas die gerne isst", erzählt Christine Schwarm. Doch Temanu aß trotzdem keinen Bissen - er hatte erst wenige Stunden zuvor erfahren, dass sein Vater in Eritrea gestorben war. Seine Mutter hatte er schon als Kind verloren. "Ich bin dann mit ihm in die Marienkirche gegangen, damit er irgendein Ritual hat, um seiner Trauer Platz zu geben", sagt Schwarm.

Neben ihr im Wohnzimmer spendet ein großer Ofen Wärme, auf dem Tisch stehen Weintrauben und Lebkuchen. Eine heimelige Atmosphäre, in der man die Nachrichten der Welt wohl leicht vergessen, auf dem Fernsehbildschirm vorbeirauschen lassen könnte. Doch mit Temanu ist ein Teil seiner Geschichte auch zur Geschichte der Familie Mühlhans geworden.

Was in der grausamen Militärdiktatur Eritreas geschieht, welches Leid Menschen auf der Flucht nach Europa in überfüllten Flüchtlingscamps erfahren - all das spielt nun auch in dem Wohnzimmer in Benediktbeuern eine Rolle. "Einmal hatte ich Freundinnen zu Besuch, Ermiyas und ein paar Freunde von ihm haben neben uns am Esstisch Videos von der Grenze zwischen Sudan und Libyen geschaut. Ich warf zufällig einen Blick darauf - so etwas Grausames hatte ich noch nie zuvor gesehen", sagt Schwarm. Die Aufnahmen hätten gezeigt, wie Geflohene am Grenzübergang mit Stöcken niedergeschlagen wurden.

Es ist etwas ganz anderes, wenn Temanu selbst erzählt

Zwei Wochen vor Temanus Ankunft hatten sie und ihr Mann begonnen, sich über das Land Eritrea einzulesen, über die Situation der Geflohenen. Aber es ist eben etwas ganz anderes, wenn plötzlich jemand mit am Tisch sitzt, der erzählt, was er selbst erlebt hat. "Zweimal war ich in Eritrea im Gefängnis", sagt Temanu. "Einmal eine Woche, einmal drei Monate". Er lächelt. "Beim dritten Versuch hast du es dann über die Grenze bis nach Äthiopien geschafft, oder?", fragt Mühlhans. Temanu nickt, mehr sagt er nicht dazu. Für Mühlhans hat sich das Bild der Flucht in den vergangenen Monaten Stück für Stück zusammengesetzt - "man merkt, wann es okay ist, nachzufragen und wann nicht", sagt der 48-Jährige.

Zwei Freunde, die in der Energiezentrale im nahe gelegenen Kloster Benediktbeuern Zuflucht gefunden haben, sind an diesem Abend bei Mühlhans zu Gast. Sie sind ebenfalls Geflohene aus der eritreischen Militärdiktatur, ab und an übersetzt Temanu für sie. Mittlerweile versteht er ziemlich gut Deutsch, auf seinem Schreibtisch liegt ein dickes Wörterbuch Deutsch - Tigrinya.

Vor einem Jahr, als Temanu nach Benediktbeuern kam, war die Sprache noch eine große Hürde. Deutsch beherrschte der damals 15-Jährige nicht, ein wenig Englisch - das reichte, um Grundlegendes zu klären, "wie zum Beispiel, wann es Essen gibt", sagt Mühlhans. Temanu allerdings hielt Christine Schwarm damals für die Tochter von Rudi Mühlhans - von diesem Missverständnis erfuhr das Paar aber erst viel später. Ohnehin war die Gleichberechtigung von Mann und Frau für Temanu neu, "als er erfuhr, dass eine Frau in Deutschland Kanzlerin ist, hat er schallend gelacht", sagt Mühlhans.

Der Alltag mit Temanu ist ein großer Gewinn

Ihm habe der 16-Jährige sofort den Besen aus der Hand genommen: Es könne doch nicht sein, dass der Vater in der Familie putze, sagte Temanu dann. Dass die Mutter sich um das Haus kümmert, war für den Jungen dagegen selbstverständlich. Heute sei das zum Glück anders, sagt Christine Schwarm. Der Alltag mit Temanu sei ohnehin ein unglaublicher Gewinn für das Familienleben. Geholfen hat dabei auch, dass einer ihrer Söhne genauso alt ist wie Temanu - er nahm das neue Familienmitglied in den ersten Wochen mit zum Einkaufen, leistete ihm später Gesellschaft auf dem Pausenhof.

Mittlerweile allerdings hat Temanu die Schule im Ort verlassen, ist auf die Berufsschule in Bad Tölz gewechselt - und damit seinem Berufsziel wohl näher als noch vor wenigen Monaten in der siebten Klasse, mit lauter jüngeren Mitschülern. "Ich würde gerne Zimmermann werden", sagt der 16-Jährige. Sein Asylantrag läuft noch, Mühlhans zufolge hat Temanu aber gute Chancen bleiben zu dürfen - zum einen, weil er noch minderjährig sei, zum anderen, weil er aus einem von einer Militärdiktatur drangsalierten Land komme.

In Temanus Zimmer hängt an der einen Wand eine große Deutschlandkarte, an der anderen auf Papier ausgedruckte Geldscheine - Geld aus dem "State of Eritrea". Irgendwann, sagt Temanu, will er in seine Heimat zurück. "Wenn es in Eritrea wieder schön ist." Wann das sein wird, weiß niemand. Bis dahin bleiben Temanu nur die Erinnerungen im Kopf - und das Bild von dem grauen Dach auf seinem Computerbildschirm. 4500 Kilometer weiter.

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