Gretchenfrage:Wie viele Flüchtlinge haben Sie schon aufgenommen, Herr Prantl?

Situation am LAGeSo in Berlin

Muss man selbst Flüchtlinge aufnehmen, um glaubhaft für eine menschliche Asylpolitik einzutreten? (Foto: Syrisches Mädchen im LaGeSo im Berlin)

(Foto: dpa)

Wieviel Engagement muss sein? Wieviel Engagement darf sein? Immer wieder bekommt unser Autor Fragen wie diese gestellt. Nachdenken über ein journalistisches Lebensthema.

Von Heribert Prantl

Dem damaligen Bundesinnenminister Fritz Zimmermann von der CSU verdanke ich es, dass das Ausländer- und Asylrecht schon früh zu einem meiner journalistischen Lebensthemen geworden ist. Es war 1988: Zimmermann war ein politischer Haudegen nicht nur im Auftreten, sondern auch in der Art, wie er Gesetze machte. Sein Gesetzentwurf zu einem neuen Ausländerrecht war ein gefährlicher Paragrafen-Irrgarten: Vor dem Betreten Deutschlands wird gewarnt.

Die Zuwanderung von Ausländern, so hieß es in der Gesetzesbegründung drohend, bedeute "den Verzicht auf die Homogenität der Gesellschaft. Die gemeinsame deutsche Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur verlören ihre einigende und prägende Kraft. Die Bundesrepublik Deutschland würde sich nach und nach zu einem multinationalen und multikulturellen Gemeinwesen entwickeln." Mit solchen Sätzen hätte man damals auch das Programm einer Rechtsaußen-Partei schreiben können.

"D' Leut wollen es so", erklärte die CSU: Es sei "das Akzeptanzproblem", das die Politik zu solcher Härte greifen lasse; würde die Ausländerzuwanderung nicht streng gesteuert, schlage "in vielen Bevölkerungskreisen die gegenüber Ausländern an sich aufgeschlossene Einstellung in Reserviertheit um". So redete man die Nichtakzeptanz gerade herbei.

Kleine neue statt großer alter Tür

Nachdem dieser Gesetzentwurf in der SZ publiziert worden war, wurde er, der öffentlichen Empörung wegen, zurückgezogen; aber der Geist des Gesetzentwurfs blieb präsent, zumal in der CSU. Der nächste Bundesinnenminister, es war Wolfgang Schäuble, musste 1990 ein neues Gesetz schreiben; es war besser, aber nicht gut.

Die Politik der Regierung Kohl sperrte sich gegen jeden Versuch, Einwanderung mittels Einwanderungsgesetz klar zu regeln. Das Asyl blieb für Menschen, die nicht EU-Bürger waren, die einzige Tür nach Deutschland; davor und dahinter stauten sich die Migranten.

Es begann die Zeit der furchtbaren Ausschreitungen gegen Flüchtlinge. Die Reaktion darauf? Die alte große Tür wurde per Grundgesetzänderung durch eine neue kleine Tür ersetzt. Der Asylartikel 16 Absatz 2 Grundgesetz wurde abgeschafft. Ich habe dagegen angeschrieben; ich tue es immer noch.

Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland drängt, ist allerdings heute so hoch wie nie; das macht beklommen. Und es ist wohl so, dass angesichts der Flüchtlingskrise die alte Fritz-Zimmermann-Botschaft von der zu erhaltenden "Homogenität der Gesellschaft" auf einmal nostalgische Kraft hat und manchen wie eine neue Verheißung klingt.

Die Zahl der Flüchtlinge ist so hoch, dass viele Landkreise und Kommunen, zumal die in den bayerischen Grenzregionen, nicht mehr aus noch ein wissen. Landräte und Bürgermeister sind auf einmal Akteure einer globalen Tragödie - und fühlen sich, als seien sie in einem falschen Fernsehprogramm gelandet, das man aus- oder umschalten möchte.

Natürlich können "wir" nicht alle Flüchtlinge aufnehmen

Der Film, den sie da sehen, handelt von sechzig Millionen Flüchtlingen weltweit, von ihrem Leben und Sterben und dem Elend dazwischen. Er handelt von denen, die dem Terror des "Islamischen Staates" mit knapper Not entkommen sind; von denen, die es nach Europa schaffen; von denen, die im Mittelmeer ertrunken sind; von denen, die zu Millionen in den Notlagern in Jordanien und Libanon darauf warten, dass die Zustände im Heimatland besser werden.

Er handelt auch von denjenigen Menschen, die aufgenommen worden sind in einer neuen Heimat - und wie sie es geschafft haben, keine Flüchtlinge mehr zu sein. An solcher Beheimatung mitzuwirken, ist eine gigantische Aufgabe, die von Politik und Gesellschaft ein gewaltiges Umdenken verlangt. So ein Wort wie "gewaltiges Umdenken" sagt sich leicht; das Umdenken zu realisieren, ist schwer. "Wir schaffen das", hat die Kanzlerin gesagt. Aber wie schaffen wir das - und was schaffen wir?

Das Elend der Flüchtlinge ist so nahe gerückt in den vergangenen Wochen - und es hat so viele Menschen hierzulande ans Herz gefasst. Es ist aber auch die Sorge groß, dass die Stimmung kippt, dass sich Angst Luft macht in Abwehr und Ausschreitung. Man kann dieses Kippen der Stimmung auch herbeireden, herbeischreiben und herbeisenden; ich glaube, das geschieht gerade.

Es geschieht dies so ähnlich, wie zuvor die Betroffenheit herbeigeschrieben und herbeigesendet werden konnte. Wenn Stimmungen nur Stimmungen sind und keine Überzeugungen, schlagen sie schnell um. Mit einem Gezeitenspiel von Emotionen, im Wechsel von Hui und Pfui, lässt sich freilich verlässliche Flüchtlingspolitik nicht gut machen.

Natürlich können "wir" in Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen. Und natürlich werden nicht alle, die kommen, bleiben können. Das war schon bisher so, das ist nichts Neues. Die Herzlichkeit, mit der so viele Flüchtlinge an den Bahnhöfen empfangen wurden, löst nicht die gewaltigen Probleme, die Staat und Gesellschaft bevorstehen; aber sie hilft, diese Probleme anzupacken.

Privatisierung staatlicher Aufgaben - nein! Persönliches Engagement - ja!

Leuten wie mir, die seit vielen Jahren für einen humanen Umgang mit Flüchtlingen werben, wird gern und fälschlicherweise unterstellt, sie würden die unbeschränkte Einwanderung und die unbeschränkte Aufnahme propagieren. Das tue ich nicht. Das schöne Lied "Macht hoch die Tür, die Tor macht weit" - ich singe es an Weihnachten ganz gerne, aber es ist kein politisches Motto für die Migrationspolitik. Ich werbe für eine differenzierte, pragmatische und rechtsstaatliche Einwanderungspolitik.

Ich weiß, dass "wir" nicht "alles Leid der Welt" aufnehmen können. Das tun wir auch nicht. Aber: Ich war und bin dagegen, Flüchtlinge absichtlich schlecht zu behandeln, um auf diese Weise "Anreize" zu begrenzen; Flüchtlinge sind keine Pawlowschen Hunde. Ich war und bin dagegen, Flüchtlinge als Menschen dritter Klasse zu sehen. Ich bin dagegen, weil solche politische Rohheit sich verbreitet; sie wird dann demnächst auch andere Gruppen treffen.

Ich war und bin dagegen, dass Asylpolitik, dass Politik überhaupt gemacht wird nach dem Motto "Wo gehobelt wird, da fallen Späne"; Flüchtlinge, Flüchtlingsfamilien sind keine Späne. Und falsche Politik wird nicht richtig, wenn und weil die Zahl der Flüchtlinge ansteigt.

Ich war und bin dagegen, dass über Menschen mit juristischen Fiktionen entschieden wird. Senegal und Ghana als sichere Herkunftsländer? Die Türkei als sichereres Drittland? Unsichere Staaten kann man nicht per Definition für sicher erklären. Definitionen ändern nichts an der Realität. Wenn Definitionen die Realität leugnen, sind sie Lüge.

Es gibt die Leute, die mich in Mails und Briefen fragen: "Wie viele Flüchtlinge haben Sie denn schon aufgenommen in Ihrer dreihundert-Quadratmeter-Wohnung, Herr Prantl?" Erstens habe ich keine große Wohnung. Zweitens antworte ich: Darf sich für eine humane Behandlung von Flüchtlingen nur derjenige einsetzen, der einen Flüchtling in seinem Arbeitszimmer einquartiert hat? Drittens sollten, denke ich, staatliche Aufgaben nicht privatisiert und zum Problem der Wohltätigkeit einzelner Bürger gemacht werden - ob bei der Bildung, der Armutsbekämpfung oder der Unterbringung von Flüchtlingen.

Wie die Flüchtlingskrise bewältigen? Mit dem Münchner Elan

Natürlich bedarf es aber des persönlichen Engagements; hier sollte jeder tun, was er gut kann. Wenn einer oder eine die Möglichkeit hat, bei sich Flüchtlinge aufzunehmen, wunderbar! Der eine spielt Fußball mit syrischen Jungs; die andere bringt Albanern Deutsch bei, der Tüftler repariert Fahrräder für Flüchtlinge; der Handwerker baut kostenlos Bäder in Wohnungen.

Und ich? Ich kann verheimlichte politische Pläne öffentlich machen, Gesetzentwürfe studieren, zerlegen, beschreiben und in Vorträgen kritisieren. Mir sind unglückliche und glückliche Flüchtlinge begegnet, an den Außengrenzen, in den Flüchtlingslagern; gut integrierte Flüchtlinge und solche in Abschiebehaft. Wir haben geredet und geredet und gegessen und manchmal gesungen. Manchmal fehlten mir auch die Worte; manchmal weiß man nicht mehr, was man sagen soll.

Nun ist es einfacher zu sagen, was nicht geht, als zu sagen, was geht. Dies ist so, weil es "die" Lösung für eine Bewältigung der Flüchtlingskrise nicht gibt. Es gibt nur eine Vielzahl von einzelnen Maßnahmen, die sich aber alle messen lassen müssen an dem, was nicht geht. Eine Verletzung des Maßstabs der Menschenwürde geht nicht. Das gilt für die Beschleunigung der Asylverfahren, das gilt für beschleunigte Abschiebung.

Verschiedentlich wird die Wiedererrichtung von Grenzen in Europa gefordert und die Einrichtung von Transit- und Haftzonen, die Renationalisierung also - um dann so, mit dem Verzicht auf das grenzenlose Europa, der Flüchtlinge angeblich besser Herr zu werden. Das gilt als Pragmatismus, als Realismus gar. Aber was soll pragmatisch daran sein, dass jeder Staat einfach dichtmacht und die Probleme dem Nachbarstaat aufhalst? Ist Sankt-Florians-Politik pragmatische Politik?

Gute pragmatische Politik - das war und ist für mich die Politik des Münchner Oberbürgermeisters Dieter Reiter. Pragmatische Politik ist es, anzupacken und Probleme menschlich zu lösen, so wie das die Kommunal- und Bezirksverwaltungen in München getan haben. Pragmatische Politik ist es, sich nicht mit Paragrafen die Augen zuzuhalten.

Wenn ich gefragt werde, wie denn die Flüchtlingskrise bewältigt werden soll, dann lautet meine allererste Antwort: mit dem Münchner Elan. Das ist die Haltung, die ich mir auch in der bayerischen Staatskanzlei, die ich mir auch in Berlin und in Brüssel wünsche, von Juncker, von Merkel, von de Maizière, von Altmaier.

Selbst die Fliehkraft ist ein Privileg

Es gibt den Knopf nicht, um das Flüchtlingsproblem wieder auszuschalten. Darum war ich gegen die Änderung des Asylgrundrechts von 1993 und bin es immer noch; Gesetzesänderungen ändern nichts an den Fluchtgründen. Das alte Asylgrundrecht war auch eine Mahnung zur Fluchtursachenbekämpfung.

Zu den Grundirrtümern der vergangenen Jahrzehnte gehört der Glaube, dass man Flüchtlinge gerecht sortieren könne: in "gute" Flüchtlinge, die allein aus politischen Gründen, und in "böse", die allein aus wirtschaftlichen Gründen kommen. Die Unterscheidung ist lächerlich angesichts der Realität, dass in Afrika, im Nahen und Mittleren Osten Staaten reihenweise im Terror untergehen. Alle Anstrengungen wurden auf das Sortieren verwendet, alle sind gescheitert.

Wenig anstrengend und pragmatisch wäre jetzt dies: Flüchtlinge, die mit großer Wahrscheinlichkeit in Deutschland bleiben dürfen, also die aus Syrien und Afghanistan, werden aus dem Asylverfahren genommen und erhalten eine Aufenthaltserlaubnis ohne lange Prüfung. Die sodann entlasteten Behörden können die übrigen Asylanträge dann viel rascher prüfen. Die Zeit der Unsicherheit für Flüchtlinge wird dann kürzer. Damit beginnt Integration.

Eine Politik, die das, was sie "illegale Einwanderung" nennt, zu verhindern sucht, kann ohnehin nur dann erfolgreich sein, wenn sie ein gewisses Maß an legaler Einwanderung zulässt. Wenn keine Einwanderung zugelassen wird, wenn es auch keine nachhaltigen Versuche gibt, die Verhältnisse in den Fluchtländern zu verbessern: Dann wird die Politik von Menschenschmugglern gemacht.

Migration ist eine Tatsache in einer Welt, in der Kriege und Globalisierung Lebensräume und materielle Existenzen zerstören. Natürlich ist Fluchtursachenbekämpfung das Allerwichtigste; man darf die Zerstörungen und Verwüstungen nicht als gottgegeben hinnehmen. Im Irak ist ja auch nicht der liebe Gott einmarschiert; es waren die Amerikaner.

Natürlich muss man alles tun, um Fluchtländer wieder zu Ländern machen, in denen Menschen leben können. Im Fall Syrien heißt das, dass Merkel mit Putin reden muss, Obama mit den Machthabern in Teheran etc. etc. Der Westen, zumal Deutschland, wird aufhören müssen, die Saudis zu unterstützen, die dann die Waffen an den IS liefern.

Mehr als 400 000 syrische Kinder in libanesischen Flüchtlingslagern sind im Schulalter. Sie sind unterversorgt, weil Hilfsgelder ausbleiben. Je länger diese Kinder nicht in die Schule gehen, desto mehr verdüstern sich ihre Zukunftschancen, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder und Jugendlichen Gewalt ganz gut finden und lernen, mit Bomben statt mit Büchern ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Für sie Schulunterricht zu organisieren - das ist Fluchtursachenbekämpfung und Terrorprävention.

Zur Fluchtursachenbekämpfung gehört eine restriktive Waffenexportpolitik und eine neue Handelspolitik. Wir lassen unsere Kleidung unter erbärmlichen Umständen in Asien herstellen, was der deutschen Textilindustrie nicht eben guttut. Die in Asien billigst hergestellte Kleidung geht dann später als Secondhand-Spende nach Afrika, wo dann wiederum die dortige Textilindustrie den Bach heruntergeht. Ist das nicht pervers?

Es gäbe ein Mittel, die Verhältnisse in den Hungerstaaten Afrikas zu verbessern: gerechten Handel. Solange zum Beispiel EU-Butter in Marokko billiger ist als die einheimische, solange muss man sich über den Exodus aus Afrika nicht wundern. Die EU-Subventionspolitik und Freihandel à la TTIP sind eine Politik, die Fluchtursachen schafft. Gegen diese falsche Politik helfen keine Flüchtlings-Auffanglager.

Selbst wenn die Politik das alles endlich anpackt, wird es dauern, bis es sich auswirkt. Bis dahin wird Deutschland mit der Flucht nach Deutschland und den Flüchtlingen in Deutschland gut umgehen müssen. Diese Flüchtlinge fragen nicht danach, ob die Deutschen ihr Grundgesetz geändert haben, ob sie es womöglich noch mal ändern und noch mal einschränken wollen, sie fragen nicht danach, ob EU-Staaten sich aus der Genfer Flüchtlingskonvention hinausschleichen.

Die Flüchtlinge fliehen, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr leben können. Sie fliehen, solange sie noch fliehen können, weil sie nicht warten wollen, bis sie es nicht mehr können. Es fliehen diejenigen, die noch das Geld zusammenkratzen können und noch nicht am Verhungern sind. In dieser perversen Welt ist selbst die Fliehkraft ein Privileg.

Mit Mauern und Stacheldrahtzäunen aber sind noch nie Probleme gelöst worden. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat ein Drama geschrieben, das "Die chinesische Mauer" heißt: Der Kaiser von China verkündet an einem Festtag - "zur Friedenssicherung", wie er sagt - den Bau der chinesischen Mauer. Die soll, so erklärt er, den Zweck erfüllen, "die Zeit aufzuhalten" und die Zukunft zu verhindern.

In einem Europa mit so einer chinesischen Mauer möchte ich nicht leben.

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