Vor dem Besuch der Kanzlerin:EU-Kommission kritisiert Türkei

Bundeskanzlerin Merkel besucht Türkei

Die Türkei bemüht sich seit vielen Jahren vergeblich, in die EU zu kommen.Dem vorläufigen Bericht der EU-Kommission zufolge stehen die Zeichen für die Türkei auf Gegenwind.

(Foto: dpa)
  • Die EU-Kommission legt demnächst ihren neuen Bericht zur Lage in der Türkei vor.
  • In einem Schreiben des EU-Verbindungsbüros des Bundestags werden alle wichtigen Ergebnisse des Berichts detailliert aufgeführt.
  • Demnach gibt es große Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit und der Religionsfreiheit.

Von Robert Roßmann, Berlin

Die EU-Kommission hat schon jede Menge Fortschrittsberichte geschrieben, aber noch nie war einer so delikat wie der anstehende über die Türkei.

Einmal jährlich prüft die Kommission Fortschritte und Versäumnisse der Bewerberstaaten auf ihrem Weg in die EU. Solche Zeugnisse führen leicht zu Verwerfungen. Diesmal ist die EU in einer besonders unangenehmen Lage. In der Türkei wird in zwei Wochen gewählt, da sind Regierungen besonders empfindlich.

Vor allem aber braucht Brüssel bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise dringend die Unterstützung Ankaras. Die Hauptrouten nach Europa führen derzeit durch die Türkei. Am Sonntag fliegt die Kanzlerin nach Istanbul, um mit Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu verhandeln. In so einer Situation ist ein kritisches Zeugnis mehr als hinderlich. Die EU-Kommission wollte deshalb am Freitag noch nicht einmal mitteilen, wann sie ihren neuen Türkei-Bericht vorstellen wird.

Kritik an der Einhaltung politischer Kriterien

Der Süddeutschen Zeitung liegt aber ein Schreiben vor, in dem alle wichtigen Ergebnisse des Berichts detailliert aufgeführt werden. Es stammt vom EU-Verbindungsbüro des Bundestags und datiert vom 12. Oktober. Und sein Inhalt dürfte Erdoğan tatsächlich nicht erfreuen.

Der Türkei-Bericht der EU-Kommission werde "kritisch ausfallen, vor allem hinsichtlich der Einhaltung der politischen Kriterien", heißt es in dem Schreiben des EU-Verbindungsbüros. Der Bericht sei zwar "noch in interner Abstimmung". Man habe "auf Arbeitsebene" aber bereits den Inhalt in Erfahrung gebracht.

Laut Verbindungsbüro stellt die EU-Kommission in ihrem Bericht "eine deutliche Verlangsamung des Reformprozesses in der Türkei" fest. Vor allem "im Bereich Rechtsstaatlichkeit" übe die Kommission "scharfe Kritik hinsichtlich bereits verabschiedeter Schlüsselgesetze, die gegen europäische Standards verstießen". Dabei wird zum Beispiel auf ein neues Sicherheitsgesetz verwiesen, das die Befugnisse der Polizei bei Festnahmen, Durchsuchungen und Schusswaffengebrauch erweitere und derzeit im Kampf gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zur Anwendung komme.

Außerdem wird erwähnt, dass die Türkei im Juli 2015 "eine weitreichende militärische Kampagne gegen PKK-Aktivisten gestartet und somit den Konfliktbereinigungsprozess der Kurdenfrage beendet" habe. "Auch im türkischen Justizwesen verschlechtere sich nach Einschätzung der Kommission die Lage", heißt es in dem Schreiben des EU-Verbindungsbüros. Durch den unzulässigen Eingriff der Exekutive in die Justiz sei "deren Unabhängigkeit weiter beeinträchtigt". Richter und Staatsanwälte seien wegen ihrer Entscheidungen festgenommen und Staatsanwälten Ermittlungsverfahren entzogen worden.

"Anlass zur Sorge" gäben aber auch "die verschärften Restriktionen bei der Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit". Außerdem äußere die EU-Kommission "Bedenken bezüglich des mangelnden politischen Willens beim Kampf gegen die Korruption". Sogar im Kampf gegen die organisierte Kriminalität habe die Türkei "nur mäßigen Reformeifer" gezeigt.

Keine Besserung hinsichtlich der Religionsfreiheit

Beim Schutz der Menschenrechte seien ebenfalls "gravierende Mängel festzustellen". Insbesondere im Bereich der Meinungsfreiheit hätten sich die Verhältnisse "wesentlich verschlechtert". In diesem Zusammenhang wird auf die "Strafverfahren gegen Journalisten, Schriftsteller oder Nutzer sozialer Medien" verwiesen, die in den vergangenen beiden Jahren eingeleitet wurden.

Außerdem werden Änderungen des Internet-Gesetzes beklagt, die "nicht im Einklang mit den europäischen Standards stehen". Bei der "Religionsfreiheit habe sich die Lage ebenfalls nicht verbessert".

Ausdrücklich gelobt wird die Türkei in dem Bericht der EU-Kommission für ihre Bemühungen "zur Bewältigung der Migrationskrise". Derzeit hielten sich circa 2,2 Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak in der Türkei auf, eine Million von ihnen seien Kinder. Die Flüchtlinge würden "mit Lebensmitteln generell gut versorgt". Außerdem hätten sie kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung. Dieses Engagement für Flüchtlinge "entlaste jedoch die türkische Regierung nicht von ihren Verpflichtungen im Rahmen des Beitrittsprozesses", heißt es in dem Schreiben des Verbindungsbüros. Deshalb werde die EU-Kommission ihrem Türkei-Bericht "strikte Reformempfehlungen" beifügen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: