Kurzkritik:Schrei nach Leben

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Kammerorchester spielt Schostakowitsch

Von Egbert Tholl, München

Der erste Teil des Konzerts ist eine liebevolle Hinleitung zur Uraufführung, "Toned Melisma Silver Print" von Atac Sezer. Erst, quasi als Muntermacher, gibt es die Ouvertüre von Haydns Oper "L'isola disabitata", von Alexander Liebreich frisch und dramatisch dirigiert, vom Münchener Kammerorchester mit all der Lebendigkeit und Präzision gespielt, zu der diese Musiker wunderbar in der Lage sind. Dann "Rakastava", instrumentales Ton-Poem von Jean Sibelius, ein erst zehrendes, ganz und gar knieweiches Stück, sehr intim und voller verblüffender Raum-Effekte, mal ganz nah, mal magisch fern. "Nordlichter" meint ein Zuhörer. Ja, eine gute Beschreibung.

Und dann wieder ein Poem, Sezers Auftragswerk. Es mag sein, dass im Material des in Istanbul geborenen Münchners seine Herkunft aufscheint, östliche Tonsysteme, übertragen ins westliche System. Als ein Flirren, als ein Geschmack ist da etwas spürbar, das schwer zu fassen ist. Doch mangelt es dem in seinem Melos dann überhaupt nicht orientalisch klingendem Stück an Struktur. Sezer behandelt das Orchester als reinen Klangapparat, spielt ein bisschen mit der Besetzung, mit der Isolation einzelner Instrumente, doch kommt letztlich nicht viel mehr dabei heraus als ein vielgestaltiger Glissandorausch.

Dann: ein Erlebnis, die 14. Symphonie von Schostakowitsch, in welcher dieser elf harte, böse Gedichte über den Tod und das Sterben vertont. Zu Beginn lotet Sergei Leiferkus mit orthodoxer Strenge echt russische Abgründe aus, dann explodiert Tatiana Monogarova. Zwischen all dem Knochengeklapper, mit dem Schostakowitsch in seinem Meisterwerk die Kulturfunktionäre in den Wahnsinn getrieben haben muss, zwischen den hohlen Gebeinen, den Totenglocken und grotesken Märschen in den Tod ist sie ein aufregender Schrei nach Leben, ist als Selbstmörderin ein ergreifendes Ereignis, als Loreley todtraurig einsam. Eine unabdingbare Wucht!

© SZ vom 17.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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