Ebersberg:Der Torso des Genies

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Karl Ratzer findet erst ganz am Ende des Auftritts zu seiner meisterhaft-kreativen Lässigkeit

Von Ralf Dombrowski, Ebersberg

Karl Ratzer ist ein Original. Das ist ein Privileg, aber auch sein Problem. Denn wer den Wiener Musiker noch aus den Siebzigern oder Achtzigern kennt, hat einen immens begabten, profund musikalischen Gitarristen in Erinnerung, der somnambul sicher den richtigen Ton am passenden Platz fand. Damals überhäufte man ihn mit Lob und nicht alles davon bekam ihm. Der Karl Ratzer, der am Samstag Abend auf der Bühne des Alten Kinos von Ebersberg sitzt, ist daher nur noch ein Torso des ursprünglichen Genius, ein zwischen Grant, Demut und Inspiration schwankender älterer Herr, der erst gegen Ende seines Konzert zur Form findet.

Nun gab es ein paar Schikanen, die den Auftritt erschwerten. Sein Septett beispielsweise war über Nacht zum Quintett geschrumpft, weil der Trompeter Peter Tuscher anderswo einen Job gefunden und der Drummer Howard Curtis einen, zum Glück harmlosen Unfall hatte, der ihn aber am Mitspielen hinderte. Ratzer entschloss sich, mit dem Rest der allerdings noch immer herausragenden Mannschaft anzutreten, und so konnte das zahlreich erschienene Publikum Larry Porter am Klavier, der Bassisten Peter Herbert und die beiden Bläser Ed Neumeister mit Posaune und Johannes Enders am Tenorsaxofon erleben. Aufgrund der ungeprobten Umbesetzung zu Beginn zurückhaltend agierend, fand das Team nach mehreren Warmspielstücken zueinander, als Ratzer etwa bewährte Melodien wie "Sweet Lorraine" anstimmte und mit pittoresker Mischung aus Schmäh und Blues sang. Überhaupt entwickelte sich die zweite Hälfte des Konzerts schrittweise zu einem Club-Juwel des Jazz-Festivals. Denn Peter Herbert ließ locker und gestaltete kraftvoll die Musik klammernde Basslinien. Larry Porter dokumentierte zwar nur einen Teil der improvisierenden Finesse, zu der er am Klavier fähig ist, dafür holten Ed Neumeister und Johannes Enders weiter aus, umgarnten sich mit faszinierend intuitiv ineinandergreifenden Linien und gönnten sich, im Fall der Posaune, auch humorvoll vokal phrasierende Einlagen. Am Ende stand Ratzer, der das Konzert bis dahin buddhahaft sitzend geleitet hatte, zu "Lester Leaps In" auf und ließ für einige Momente gitarristisch das aufblitzen, wofür er einst als Meister der ausschweifend kreativen Lässigkeit gefeiert wurde. Man spürte ein paar Minuten lang den Blues, der ihn umtrieb, und den Jazz, der ihn künstlerisch aus den Gefilden des Bekannten heraus weiter in die Individualität, die Originalität hätte führen können. Es war ein Finale, bei dem die Musik eigentlich erst begann, aber leider schon zu Ende war.

© SZ vom 19.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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