Flüchtlinge in Niederbayern:Was sich an der niederbayerischen Grenze getan hat

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Herumsitzen, warten, frieren (hier Braunau am Inn). Diese drei Verben prägen die Situation der Flüchtlinge an der bayerisch-österreichischen Grenze. (Foto: Christof Stache/AFP)

In Wegscheid gibt es jetzt ein großes Zelt. Mit Heißgetränk-Ausschank. Doch Helfer und Polizisten wissen immer noch nicht genau, wie viele Flüchtlinge kommen und gehen.

Reportage von Andreas Glas, Passau/Wegscheid

Heißen Tee gibt es ganz am Ende des Zelts und dieses Zelt ist 100 Meter lang. Wer den Weg auf sich nimmt, muss über Schlafsäcke steigen und aufpassen, dass er nicht auf einen der Arme oder eines der Beine tritt, die aus den Schlafsäcken ragen. Wer es dann geschafft hat, der steht an einem Tresen, der eigentlich kein Tresen ist, sondern vier aneinandergereihte Biertische. Und hinter den Biertischen steht ein österreichischer Soldat, der sich das mit Klett befestigte Namensschild von der Brust reißt.

Kein Name bitte, sagt der Soldat, er will keinen Ärger mit seinen Vorgesetzten. Aber reden will er schon, denn er muss jetzt mal loswerden, wie sehr es ihn ärgert, dass die Leute so lange frieren mussten, bis endlich einer auf die Idee mit dem Zelt kam. Aber gut, sagt er, nun sei das Zelt ja da, und "das Zelt ist Gold wert".

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Etwa 4500 Menschen sind am Sonntag über die bayerischen Grenzen eingereist. Nach der Einigung mit Österreich hat sich der Schwerpunkt etwas verschoben.

Der Wind findet immer einen Spalt

Damit ist das Wichtigste gesagt über das vergangene Wochenende an der Grenze bei Wegscheid. Die Österreicher haben auf ihrer Seite ein Zelt aufgebaut, es musste also keiner mehr die Nacht im Freien, in der Kälte verbringen. Andererseits: Es gibt zwar eine Heizung im Zelt, der Wind findet aber doch immer einen Spalt, um zwischen den Planen hindurch zu kriechen. Und deswegen fragt ein junger Mann nach einer wärmeren Decke. Er fragt den Soldaten hinter dem Bierbank-Tresen, aber der Soldat schüttelt den Kopf.

Alle Helfer, die Decken ausgeben, seien vor drei Stunden heimgegangen, sagt er, die müssten ja auch mal schlafen. "Drink tea", rät der Soldat dem jungen Mann und zeigt auf den dampfenden Blechkessel, der vor ihm auf der Bierbank steht. "Thank you", sagt der junge Mann, dreht wieder um und verschwindet im Schlafsack-Meer.

Busse im Halb-Stunden-Takt

Es ist Sonntag, es ist zwei Uhr früh in Wegscheid, das Zelt ist voll. In der Nacht kommen nur wenige Busse, um die Flüchtlinge rüber nach Bayern zu bringen. Aber immerhin, auch die Österreicher schicken nachts keine Busse mehr zur Grenze. Tagsüber war das anders, da kamen die Busse im Halb-Stunden-Takt, insgesamt 2000 Menschen, schätzt Andreas Hüllinger, der Einsatzleiter des österreichischen Roten Kreuzes.

Hüllinger läuft vor dem Zelt auf und ab, links klemmt eine Mappe unter seiner Achsel, rechts ein Handy an seinem Ohr, irgendjemand will von ihm wissen, wie viele Leute die Deutschen in der Nacht noch rüber bringen. Rüber in die Passauer Notunterkünfte oder in die Erstaufnahmeeinrichtungen der anderen Bundesländer. Keine Ahnung, sagt Hüllinger ins Handy, er wisse das jetzt auch nicht, er habe da keine Information von den Deutschen.

Klingt nicht so, als laufe das mit der Abstimmung jetzt besser. Darauf hatten beide Länder ja gehofft, als sie am Freitag vereinbarten, die Flüchtlinge nur noch an fünf Orten über die Grenze zu schicken: Freilassing und Laufen in Oberbayern, dazu Neuhaus, Simbach und eben Wegscheid in Niederbayern. Weit mehr als 10 000 Menschen sind dort am Wochenende insgesamt ankommen.

Zu müde, um ungeduldig zu sein

Ob die Vereinbarung etwas gebracht habe? In Wegscheid, sagt Andreas Hüllinger, "hat sich nichts geändert", vom Zelt mal abgesehen. Zufriedener klingt ein deutscher Bundespolizist, der auf der anderen Seite der Grenzbrücke steht, er sagt, es habe sich alles "gut eingependelt" zwischen den Ländern. Mit den neuen Absprachen habe das aber nichts zu tun, eher schon damit, "dass wir Polizisten inzwischen eine gewisse Routine haben".

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Eine gewisse Routine, die glaubt man auch im Zelt zu spüren, Routine im Warten. "Waiting Area" steht auf einem Zettel geschrieben, der Zettel klebt an der Zeltplane am Eingang. Dort, wo diejenigen hocken, liegen oder stehen, die als nächste an der Reihe sind, wenn ein Bus aus Deutschland eintrifft. Es herrscht fast geschäftsmäßige Ruhe, aber wahrscheinlich täuscht das, wahrscheinlich sind die Menschen nur zu müde, um ungeduldig zu sein.

An den Handgelenken tragen die Flüchtlinge neuerdings weiße und orangefarbene Bändchen, auf die jemand mit Filzstift eine Nummer geschrieben hat. Nein, registriert habe man keinen der Flüchtlinge, sagt ein österreichischer Soldat, die Nummern zeigen nur an, wer früher und wer später angekommen ist, wer früher und wer später in den Bus nach Deutschland steigen darf.

"Ich will ein nützlicher Mensch sein"

Wann der nächste Bus komme, das sei die häufigste Frage der Flüchtlinge, sagt Navid. Und was antworte er dann? "Die Wahrheit", sagt Navid, "dass ich es auch nicht weiß, ich bin nicht die Regierung." Vor eineinhalb Jahren ist er selbst geflüchtet, aus Iran, jetzt hilft er in Wegscheid als Übersetzer, als "Translator", so steht es auf seiner Leuchtweste. Er macht das freiwillig, er bekommt kein Geld dafür, er darf auch keines bekommen, sein Asylantrag läuft noch.

"Ich will ein nützlicher Mensch sein", sagt Navid, "es macht mich verrückt, dass ich nicht arbeiten darf, also bin ich hier." Er spricht gut Englisch, das Deutsch hakt noch, aber die Wörter, die er hier in Wegscheid braucht, die hat er alle drauf: Durchfall, Husten, Fieber. Die zweithäufigste Frage, die Navid von den Flüchtlingen hört, ist die Frage nach einem Arzt. Die Kälte macht den Leuten zu schaffen, vor allem den Kindern, und bald kommt der Schnee. Spätestens dann wird auch ein Zelt nicht mehr reichen, um die Menschen an den Grenzen zu wärmen.

© SZ vom 02.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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