Wahl in der Türkei:Triumph für Erdoğan

  • Im Juni verlor die islamisch-konservative AKP in der Türkei ihre absolute Mehrheit - jetzt kann sie wieder alleine regieren.
  • Auch die prokurdische Partei HDP schafft es wieder ins Parlament.
  • Kritiker fürchten, dass Präsident Erdoğan per Verfassungsänderung ein Präsidialsystem im Land einführt.

Von Mike Szymanski, Istanbul

Hat Präsident Erdoğan nicht alles für dieses Land getan? Fehlt denn wirklich was? Wenn Sadullah Mutlu von seinem Gartenhäuschen übers Tal blickt, dann kann er nicht erkennen, dass etwas fehlt.

Mutlu zeigt auf die neuen Schulen, die Recep Tayyip Erdoğan hat bauen lassen. Er zeigt auf die neue Moschee, rechts, ganz oben auf dem Berg, der so spitz zuläuft wie ein neuer Bleistift. Das Land ist immer in Bewegung. Unten im Tal schieben die Baumaschinen Kies hin und her. Mutlu verteilt Gläser für den Tee. Seine Frau Emine sagt: "Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, dass ich Erdoğan nicht liebe?"

Liebe. Kurz vor der Wahl ist das ein Wort, das man in der Türkei nicht mehr so oft gehört hat, wenn man mit den Men-schen über Erdoğan gesprochen hat. In Güneysu, dieser Stadt am Schwarzen Meer, ist das etwas anderes. Von hier kommt Erdoğans Familie. Seine Partei, die AKP, erreicht dort bei Wahlen fast 85 Prozent. "Die Menschen von der Schwarzmeerküste sind härter", sagt Emine Mutlu. Gegenüber vom Haus der Mutlus steht Erdoğans Sommerhaus. Die Fensterläden sind zu. Der Hausherr ist in Ankara. Große Politik machen. "Seine Zeit ist noch lange nicht vorbei", sagen die Mutlus.

Wahlsonntag in der Türkei, der zweite in diesem Jahr schon. Weil das Land eben nicht nur Güneysu ist.

"Ich danke Gott, dass er uns so eine Nacht erleben lässt"

Gegen 19 Uhr flimmern die ersten Ergebnisse über die Bildschirme. Die AKP liegt bei knapp 50 Prozent. Das heißt absolute Mehrheit. Ist die Welt jetzt wieder in Ordnung, nachdem die Partei bei der Abstimmung am 7. Juni die Regierungsmehrheit verloren hatte? In der Parteizentrale der AKP in Istanbul klingt das jedenfalls so. Erst war kaum jemand im großen Versammlungssaal, in dem man auch Bälle feiern könnte. Als hätten sie selbst nicht daran geglaubt. Und nun drängen die Leute am Sicherheitspersonal vorbei. Sie haben es sogar zu eilig, um ihre Jacken abzulegen. Jetzt rufen die ersten: "Die Türkei ist mit dir." Und dann singen sie: "Recep Tayyip Erdoğan".

Irgendwann werden AKP-Fahnen verteilt. Dann laufen die ersten wie bei einer Polonaise Fahnen schwenkend durch den Saal. Der Vorsitzende der Istanbuler AKP, Selim Temurci, tritt unter dem Jubel der Leute ans Pult. "Ich danke Gott, dass er uns so eine Nacht erleben lässt." Die AKP ist zurück.

Fürchterliche Monate

Erdoğan hatte das Ergebnis der Juni-Wahl einfach nicht akzeptiert. Seine AKP hatte fast zehn Prozent eingebüßt, schlimmer noch war dies: Sie konnte die Türkei nicht mehr alleine regieren. Das erste Mal seit 2002. Die prokurdische Partei HDP war neu im Parlament. Mit 13 Prozent hatte ihr Vorsitzender Selahattin Demirtaş die Zehn-Prozent-Hürde genommen. Schon in der Nacht feierten viele die Geburtsstunde einer "neuen Türkei".

Es folgten fürchterliche Monate. Die Koalitionsgespräche scheiterten, weil sich die AKP nicht in ihr Schicksal fügen wollte. Die Regierung kündigte den von Erdoğan begonnenen Friedensprozess auf. Es herrscht wieder Krieg zwischen Armee und der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die HDP ist als politische Vertretung der Kurden zwischen die Fronten geraten. Die Regierung hat alles unternommen, um die Partei von Demirtaş in die Nähe der Terroristen zu rücken, damit sie als Machtfaktor wieder verschwindet.

Brennende Parteizentralen

So ganz ist dieser Plan nicht aufgegangen: Als am Abend die meisten Stimmen ausgezählt sind, zeigt sich, dass die HDP es wieder ins Parlament schafft, wenn auch deutlich knapper als im Juni, mit etwas mehr als zehn Prozent.

Als Demirtaş am Wahltag im Istanbuler Stadtteil Sultanbeyli seine Stimme abgibt, wirkt er erschöpft. Die vergangenen Monate haben ihm zugesetzt. Er hat seine Leichtigkeit verloren, mit der er Erdoğan einst herausgefordert hatte, als sei dies alles nur ein Spiel. Erdoğan wollte sich per Verfassungsänderung zum Superpräsidenten des Landes machen. Er wollte das politische System seinem Machthunger anpassen. Demirtaş machte Wahlkampf mit dem Versprechen, dies nicht zuzulassen.

"Das Volk sehnt sich nach Frieden", sagt er am Sonntag. Dieser Wahlkampf hat Leben gekostet, sehr viele sogar. Parteibüros der HDP gingen in Flammen auf. Beim Terroranschlag von Ankara mit mehr als 100 Toten kamen besonders viele HDP-Anhänger und zwei Kandidaten für die Parlamentswahl um. Die Miliz Islamischer Staat wird als Drahtzieher vermutet. Danach hat die HDP Großkundgebungen abgesagt. Wie will man sich nach einem solchen Wahlkampf überhaupt noch als Sieger fühlen, wenn man so viel verloren hat? Während am Wahlabend vor der Istanbuler AKP-Zentrale Autokorsos vorbeiziehen, entlädt sich in der Kurdenmetropole Diyarbakır im Osten der Frust. Als klar ist, dass die AKP die Mehrheit zurückerobert hat, stoßen Demonstranten mit der Polizei zusammen.

"Die Zeit der Experimente ist vorbei"

In einer Studie im Oktober hieß es noch: Eine Mehrheit der Türken, 55 Prozent, glaubt, dass ihr Land in die falsche Richtung steuert. Wie passt das mit dem Wahlerfolg zusammen? In der AKP-Zentrale trifft man Remzi Zafer Aru. Er ist Unternehmer, aus Berlin. AKP-Anhänger und AKP-Erklärer. Manchmal laden deutsche Sender ihn in ihre Talkshows ein, wenn sie wissen wollen, wie diese Partei funktioniert. Er sagt dann Sätze wie diesen: "Erdoğan wird dämonisiert." Jetzt steht der Mann in seinem Anzug da und wirkt ein bisschen enttäuscht, dass er dieses deutliche Ergebnis so selbst nicht vorhergesehen hat. 46 Prozent, 47 vielleicht. Aber so einen Durchmarsch: "Das hätte ich nicht gedacht." Eine Erklärung hat er schon.

Seitdem die AKP die absolute Mehrheit verloren hatte, hat sie nicht nur den Krieg gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und den Anti-Terror-Kampf angefangen. Auch die Wirtschaft brach ein. Ausländische Investoren haben in den vergangenen Monaten Milliarden aus dem Land abgezogen. Die Geschäfte liefen schlecht. Die Krise sei im Portemonnaie der Leute angekommen, glaubt Aru. Sie wollten ihre alte Sicherheit zurück. Das Ergebnis vom Juni sei ohnehin nur ein Versehen gewesen. Die Wähler hätten der AKP einen Denkzettel verpassen wollen, viele hätten nicht gewollt, dass die Partei die absolute Mehrheit verliert. "Die Zeit der Experimente ist vorbei", sagt der AKP-Erklärer.

Erdoğan scheint so mächtig wie lange nicht

Die AKP ist ganz die alte geblieben. Ende vergangener Woche besetzte die Regierung mit Polizeigewalt kritische Medien. Neu war nur, dass Erdoğan in den vergangenen Wochen nicht mehr so laut von der Superpräsidentschaft gesprochen hat. Aufgegeben hat er diesen Plan nicht. Erdoğan sagt am Sonntag: "Es hat sich gezeigt, wie wichtig Stabilität für unser Land ist." Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis die Verfassungsänderung wieder auf den Tisch kommt. In regierungskritischen Redaktionen mag man sich nicht ausmalen, was in den nächsten Wochen passiert. Jetzt, wo Erdoğan mächtiger ist denn je.

Die AKP wurde mal gewählt, weil sie dem Land gut tat. Jetzt sagen AKP-Wähler, sie wollten, dass es nicht noch schlimmer kommt. Aus der Wahlniederlage vom 7. Juni hat die Partei wenig Konsequenzen gezogen. Sie hat in jenen Wahlkreisen, wo sie im Juni ganz knapp verlor, ein paar Kandidaten ausgetauscht- mehr nicht. Ahmet Davutoğlu, Premier, Parteichef und Vollstrecker von Erdoğans Willen, durfte die Partei ein zweites Mal in die Wahl führen. Eine gute Figur hat er nicht gemacht. Nach dem Anschlag von Ankara sagte er, dass man potenzielle Selbstmordattentäter zwar kenne, aber sie nicht festsetzen könne, solange sie nichts täten. Auf seinen Wahlkampftouren versprach er ledigen Männern, die AKP könne bei der Partnerwahl helfen. Als wäre dies alles, was dem Land zum Glück fehlte.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: