Drogenpolitik:Zwangskorsett Abstinenz

Marijuana legalization takes effect in Alaska

Ein Hanf-Aktivist führt einen Cannabis-Verdampfer vor: In den USA sind die Geräte bereits weit verbreitet.

(Foto: Robyn Beck/AFP)

Suchthilfe kennt in Deutschland nur ein Ziel: weg von den Drogen, für immer. Im Ausland diskutiert man über Mittel zur Schadensbegrenzung: Medikamente gegen Überdosen, die E-Zigarette oder neuerdings die E-Tüte.

Von Berit Uhlmann und Christoph Behrens

Der Joint fühlte sich fürchterlich in Rachen und Lunge an. So richtig klappte es nicht mit Whoopi Goldberg und dem Gras. Doch dann erhielt sie "Sippy": "Ich nahm einen Zug. Seither sind wir unzertrennlich." Sippy ist eine Art elektronische Tüte. Sie verdampft Cannabis, mit dem die Schauspielerin ihre chronischen Schmerzen bekämpft. Mit dem Gerät steht Goldberg nicht allein da. Die Cannabis-Verdampfer sind vor allem in den USA weit verbreitet, wo mehr als 20 Bundesstaaten Marihuana zumindest teilweise legalisiert oder entkriminalisiert haben.

Nun beginnen Experten zu diskutieren, ob das Gras-Equipment vielleicht ganz nützlich ist. Ärzte und Gesundheitswissenschaftler können sich durchaus Vorteile vorstellen. Die Geräte verdampfen die Cannabis-Inhaltstoffe THC oder Cannabidiol. Damit entfallen Teer, Kohlenmonoxid, Ammoniak und andere Giftstoffe, die beim Verbrennen des Hanfs entstehen. Auch Tabak, mit dem viele Konsumenten den Joint strecken, wird überflüssig. Die Krebsgefahr könnte somit gesenkt werden.

Auf der anderen Seite gibt es die Befürchtung, dass Konsumenten "weniger schädlich" mit "harmlos" gleichsetzen und somit schon in jüngerem Alter oder auch häufiger zum Cannabis greifen. Damit würden die größten Gesundheitsrisiken zunehmen: Abhängigkeit und Unfälle, die Konsumenten zustoßen, wenn sie high sind.

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Pragmatische Hilfe statt völliger Abstinenz

Noch fehlen Untersuchungen, um abzuschätzen, welches Potenzial im Cannabis-Dampfen steckt. Doch die neuen Geräte rütteln einmal mehr am Grundsatz der deutschen Drogenpolitik: Er heißt bedingungslose Abstinenz.

"Ein schönes Ziel, wenn es von den Konsumenten gewollt wird", kommentiert der Frankfurter Suchtforscher Heiko Stöver im Alternativen Drogenbericht. Für viele Abhängige aber sei das deutsche Abstinenz-Paradigma ein "Zwangskorsett". Es negiert, was in etlichen anderen Ländern bereits praktiziert, zumindest aber diskutiert wird: Hilfen für jene, die es nicht schaffen, ihrer Sucht komplett zu entsagen, aber dennoch die Schäden an ihrer Gesundheit so weit wie möglich reduzieren wollen.

Auf diesen pragmatischen Ansatz können in Deutschland allenfalls Heroinsüchtige hoffen. Mit Glück bekommen sie Methadon, saubere Spritzen und einen geschützten Raum für die Injektionen. Dass mehr Hilfe möglich ist, zeigen beispielsweise die USA und Großbritannien. In diesem Ländern wird das Medikament Naloxon in der Drogenszene verteilt. Angehörige, Freunde, Sozialarbeiter oder Polizisten können es einem Süchtigen bei Heroin-Überdosierungen verabreichen und so den Drogentod verhindern. In Deutschland wird über diese Möglichkeit nicht einmal gesprochen.

Auch das reduzierte Trinken, in internationalen Leitlinien seit Jahren als ein mögliches Ziel der Alkoholtherapie empfohlen, hat in Deutschland einen schweren Stand. Zwar räumt seit diesem Jahr auch die deutsche Leitlinie ein, dass Alkoholiker davon profitieren könnten, weniger zu trinken. Doch weite Teile der Suchthilfe lehnen das Konzept pauschal ab.

In Großbritannien wird die E-Zigarette empfohlen - in Deutschland verteufelt

Ähnlich ist die Situation bei der E-Zigarette. Das deutsche Krebsforschungszentrum und etwa 50 weitere medizinische Fachgesellschaften und Organisationen verkünden einmütig: "E-Zigaretten sind gesundheitlich bedenklich", sie bergen "mehr Schadenspotenzial als Nutzen, da sie die bisherigen Erfolge der Tabakprävention gefährden".

Das sieht man nicht überall so. In Großbritannien wertet das Gesundheitsministerium den Boom der E-Zigaretten als "Chance, Rauchern beim Aufhören zu helfen". "Wir sind uns einig", hält die dem Ministerium unterstellte Behörde Public Health England fest, "dass E-Zigaretten deutlich weniger schädlich sind als Rauchen". Alle Belege sprächen dafür, dass die Gesundheitsrisiken der Verdampfer im Vergleich zur herkömmlichen Zigarette relativ gering seien. Im British Medical Journal forderte der Bioethiker David Shaw von der Universität Basel gar, die E-Zigaretten selbst in Krankenhäusern zuzulassen, um nikotinabhängige Patienten bei der Entwöhnung zu unterstützen.

Die Vorschläge werden nicht von jedem offen aufgenommen. Die englische Gesundheitsbehörde unterschlage, dass auch der Dampf der E-Liquids giftige Substanzen wie Formaldehyd enthalten könne, bemängelt etwa Martin McKee, Professor für Public Health in London. Zudem sei bislang unklar, für wie viele Personen die E-Zigarette der Einstieg in die Nikotinsucht sei - statt des Ausstiegs aus dem Rauchen.

Doch wichtig ist, dass vor allem im angelsächsischen Raum überhaupt eine Debatte über Schadensbegrenzung stattfindet, während deutsche Experten dies rigoros ablehnen. Damit überfordern sie nicht nur einen Großteil der Abhängigen, sondern laufen Gefahr, der Industrie das Feld zu überlassen - wie gerade das Beispiel E-Zigarette zeigt.

Big Tobacco gegen die E-Zigarette?

Die Verdampfer wurden fernab der großen Tabakkonzerne erfunden und ursprünglich von kleinen Firmen produziert. Gerade darin sahen einige Wissenschaftler schon vor Jahren großes Potenzial. Die unabhängigen Hersteller hätten schließlich ein orginäres Interesse, die Menschen von den Produkten der großen Player auf dem Tabakmarkt wegzubekommen. Doch die Gelegenheit, eine echte, unabhängige Alternative zur Zigarette zu etablieren, verstrich ungenutzt.

Big Tobacco ist längst in den Markt der E-Zigaretten eingestiegen. Das Fenster zu einer Schadensbegrenzung beim Tabak könnte sich bald wieder schließen, warnt der Genfer Gesundheitswissenschaftler Jean-Francois Etter. Denn vielleicht, so seine Befürchtung, drängen die großen Konzerne vor allem deshalb auf den Markt der E-Zigaretten, um die Preise hochzutreiben und Kunden wieder zur herkömmlichen Zigarette zu verleiten.

Der Verdacht scheint nicht weit hergeholt, wenn man sich das Beispiel Snus vor Augen führt. Der schwedische Lutschtabak gilt als weniger schädliche Alternative zur Zigarette, einige Gesundheitswissenschaftler plädierten in der Vergangenheit für diese Form der Schadensbegrenzung. In der Folge kauften die großen Tabakkonzerne nahezu alle Snus-Hersteller auf. Interne Dokumente der Konzerne legen nahe, dass es ihnen in erster Linie darum ging, "einen echten Wettbewerb zwischen Snus und Zigaretten zu verhindern", schreiben Forscher aus Großbritannien.

Und längst bereiten sich die Tabakkonzerne darauf vor, auch den wachsenden Marihuana-Markt zu entern. Schon in den 1970er Jahren dachten drei der ganz großen Firmen darüber nach, Cannabis-Zigaretten zu produzieren. Und während manche Gesundheitspolitiker sich damit begnügen, Cannabis und Tabak in die Schmuddelecke zu drängen oder schlicht die Augen vor Entwicklungen in der Bevölkerung verschließen, kann man davon ausgehen, dass die Tabakindustrie Kreationen wie Whoopi Goldbergs Verdampfer ganz genau beobachtet. Mehr noch, dass die Industrie ihre Macht einsetzt, um aktiv mitzumischen: Philipp Morris hat vor Kurzem zwei Milliarden Dollar in die Erforschung und Entwicklung neuer Dampfgeräte investiert.

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