Jüngste deutsche Geschichte:Blick in den Abgrund

Lesezeit: 3 min

Tanja Kinkel und Wolfgang Schorlau wagen sich in ihren neuen Werken an deutschen Terrorismus - den linken der RAF und den rechten des NSU.

Von Johanna Pfund

Historische Romane haben sich einen wichtigen Platz erkämpft in der Belletristik. Gute Unterhaltung, gepaart mit Fakten aus vergangenen Zeiten, das ist Bildung im angenehmsten Sinne, die man auch am Sonntagnachmittag auf der Couch genießen kann. Vorausgesetzt, man ist sich einer Sache bewusst: Das Zeitgemälde mag stimmen, die ein oder andere Person mag tatsächlich gelebt haben - doch es ist nicht alles so passiert, wie es geschrieben steht. Kurzum, es ist Fiktion.

Fiktion bleibt es auch, wenn Ereignisse der Zeitgeschichte im Mittelpunkt stehen. Andererseits wird es mit der zeitlichen Nähe zu den Ereignissen ungleich komplizierter, Erinnerung und Erfindung zu trennen. Dennoch haben sich einige Autoren, die beim Literaturfest lesen, an Geschichten aus der jüngeren Vergangenheit gewagt.

Tanja Kinkel hat sich in Sachen historischer Roman von der Römerzeit über das Mittelalter in die jüngste Vergangenheit vorgearbeitet: zum Terror der linken Roten Armee Fraktion (RAF), der in den 1970er und 1980er Jahren Deutschland erschütterte. Dasselbe Thema hat ja auch Frank Witzel angepackt mit "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969" - und dafür hat er kürzlich den Deutschen Buchpreis erhalten. Terror aus der rechten Szene, dem NSU, hingegen steht im Mittelpunkt von Wolfgang Schorlaus neuestem Krimi "Die schützende Hand".

Krimi und Roman laden regelrecht dazu ein, nachzuforschen, wie es nun wirklich war mit RAF und NSU

Tanja Kinkel hat sich ganz klar für den Roman entschieden und für einen sehr emotionalen Ansatz. Sie erzählt die Geschichte aus Perspektive der Kinder. Da ist die Tochter einer fiktiven RAF-Terroristin. Und da ist der Sohn des Chauffeurs, der bei einem Attentat erschossen wurde, vermutlich genau von besagter Terroristin. Beide Kinder sind erwachsen geworden mit traumatischen Erinnerungen und einer großen Lücke in ihrem Leben. Als beide unabhängig voneinander von der bevorstehenden Freilassung der Terroristin erfahren, beginnen sie mit der Suche nach der Wahrheit und begegnen sich schließlich.

Die Autorin hat solide Recherchearbeit geleistet. Der Hungerstreik im Gefängnis, die Geschichte der anderen Terroristin, die sich in die DDR abgesetzt hat, die Trainingscamps im Nahen Osten, all diese Dinge stimmen. Zugleich mischt Kinkel echte mit fiktiven Namen. Ein Kunstgriff, der erlaubt ist im historischen Roman. Nur verwirrt das in regelmäßigen Abständen, sofern man sich nicht ständig vor Augen hält, dass ein Roman ein Roman ist. Gab es diese Kanzlei wirklich? Wer ist diese Anwältin, die Freundin der freigelassenen Terroristin, die nun Karriere in der Politik macht? Eines erreicht Kinkel mit dem Werk vermutlich: Dass Leser sich mal wieder mit der Frage beschäftigen, wie es nun wirklich war mit der RAF und welche Dinge nie geklärt wurden.

Zum Nachforschen lädt auch Wolfgang Schorlaus neuer Krimi ein. Privatermittler Georg Dengler war ja schon einige Mal unterwegs, um schwierige Fälle zu lösen. Er ist ein Analytiker, unkonventionell, immer am Rande der bürgerlichen Existenz unterwegs und ganz wie der britische Agent mit einer Geliebten gesegnet, die nur optisch leicht einzuordnen ist, ansonsten aber Rätsel aufgibt. Diesen Ermittler schickt Schorlau los, das Rätsel des NSU, beziehungsweise der Selbstmorde der Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt zu lösen.

Wie Tanja Kinkel hat sich auch Schorlau minutiös eingearbeitet, Akten gewälzt, Protokolle gelesen und sich zudem die Mühe gemacht, alles mit Fußnoten zu belegen. Dabei arbeitet er sich an der von Rechtsextremen gerne vertretenen These entlang, die beiden Terroristen hätten keineswegs Selbstmord begangen. Statt dessen deutet Schorlau an, dass der Verfassungsschutz eine äußerst unschöne Rolle spielt.

Noch läuft der NSU-Prozess in München, noch fehlen viele Fakten. Nicht anders ist es bei der RAF-Geschichte. Auch dort ist längst nicht alles geklärt. Die Gefahr ist groß, die Fiktion für Fakt zu nehmen, so überzeugend klingen beide Werke in manchen Passagen. Aber beide bleiben: erfundene Geschichten mit realem Hintergrund.

"Schlaf der Vernunft" mit Tanja Kinkel am Freitag, 20. November, um 20 Uhr im Literaturhaus.

"Die schützende Hand" mit Wolfgang Schorlau am Montag, 30. November, um 19 Uhr im Gasteig.

© SZ vom 12.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: