Weibersbrunn:Die Schlitzohren aus dem Spessart

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Von einst privilegierten Mondglasmachern wurden die Weibersbrunner zu Wilderern und Holzdieben. Heute schränkt die historische Enge des Ortes manch einen ein, andere wollen sie unbedingt bewahren

Von Anna Günther, Weibersbrunn

Wer den dunklen Wald aus Räubergeschichten sucht, sollte nicht im Herbst in den Spessart fahren. Bis zum Horizont erstrecken sich sanfte Hügel in Gold, Rot, Orange, Kupfer und dazwischen wie getupft das Blaugrün der Nadelbäume. Hier täglich durch die Wälder zu stapfen, das wär's, tagträumt der Städter auf der Autobahn in Richtung Hessen. Für Weibersbrunn bedeutete der Wald lange Überlebenskampf und Lebensgefahr.

Doch ohne Wald existierte der 2000-Einwohner-Ort heute nicht, Holz und Wasser brachten 1706 Glasmacher zur Rodungsinsel an der alten Salzstraße. 160 Jahre lang produzierten sie in Weibersbrunn Glas für Spiegel, Fensterscheiben und Kelche. Der Ort war bekannt für Mondglas, bei dem aus einem geblasenen Ballon flache Scheiben geformt werden. Lothar Franz von Schönborn, der Mainzer Fürstbischof, wollte Spiegel wie in Schloss Versailles haben und holte französische Handwerker in den Spessart. Die Fürstenhäuser gierten nach Glas und diesen Spiegeln. Der österreichische Kaiser schenkte seiner Schwiegertochter einen Spiegel aus Lohr. Die Glasmacher verdienten gut, mussten nicht zum Militär und zahlten keine Steuern. 1862 schloss das Werk, Mondglas war nicht mehr gefragt. Die Menschen verarmten, verdingten sich als Tagelöhner oder gingen wildern. Der Wald brachte Fleisch auf den Tisch und Holz in den Ofen, doch wer sich erwischen ließ, wurde erschossen. Der Wald um Weibersbrunn war tabu, die Ländereien gehörten dem Fürstbischof von Mainz und, nachdem Unterfranken 1814 bayerisch wurde, den Wittelsbachern.

Doch Jagdaufseher hielten die Weibersbrunner nicht vom Wildern und Holzfrevel ab. "Es gab hier Holzhändler, die gar keine Bäume besaßen", sagt Christian Schreck. Wer im Spessart von Wilderern sprach, habe an Weibersbrunn gedacht. Als passioniertem Jäger ist ihm das offenbar unangenehm, trotzdem ist der 72-Jährige stolz auf die gewitzten Vorfahren. Anders als die umliegenden Spessart-Gemeinden haben die Weibersbrunner weder eigene Felder noch Forst. "Und wir haben trotzdem überlebt, das ist schon besonders", sagt der Hobby-Historiker. Weibersbrunn galt als ärmste Spessart-Gemeinde, der Arzt Rudolf Virchow attestierte 1862 katastrophale hygienische und gesundheitliche Verhältnisse.

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(Foto: Daniel Peter)

Blick auf den Altort von Weibersbrunn.

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(Foto: Daniel Peter)

Christian Schreck betrachtet sich im Heimatmuseum in Weibersbrunn im sogenannten Lohrer Spiegel.

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(Foto: Daniel Peter)

Exponate im Heimatmuseum in Weibersbrunn.

"Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Kinder zum Wildern in den Wald geschickt, den haben die Amerikaner nichts getan", sagt Schreck und schmunzelt. Er ist in Weibersbrunn geboren und der inoffizielle Historiker des Dorfes. Schlitzohren seien sie immer noch, sagt er. Wegziehen kam für die Wenigsten infrage. Aufwärts ging es erst mit dem Wirtschaftswunder. 1960 kam die Autobahn, die Männer arbeiteten in der Ferne auf dem Bau und schickten Geld nach Hause. "Aus Mondglasmachern wurden Mondscheinpendler", sagt Schreck. Das sei bis heute so. Auch er pendelte jeden Tag nach Frankfurt. Als "Eingeborener" schläft man eben daheim.

Ein bisschen kann man das sogar verstehen: Weibersbrunn liegt malerisch in einer Senke, auf den umliegenden Hügeln zwischen Obstbäumen geht der Blick weit und bleibt wieder am Herbstlaub hängen. Träumen ist nicht drin, der Spazierweg ähnelt einem Kartoffelacker. "Wildschweine", sagt Schreck und zuckt mit den Schultern. Die regen niemanden auf, man lebt hier mit dem Wald. Immer noch. Im Ortskern ist alles schmaler, die Häuser, die Stege über Wasserläufe. In manchen Gassen kämen üppige Menschen nicht aneinander vorbei. Schreck grüßt ununterbrochen, sogar auf dem kleinen Friedhof dominieren fünf Familiennamen.

Doch Weibersbrunn ist ein Schlafdorf geworden, die Metzgerei ist geschlossen, das Wirtshaus nebenan auch. Einen Dorfladen mit Poststelle schuf der neue Bürgermeister und Neffe des Historikers, Walter Schreck. An diesem Nachmittag ist der Laden geschlossen, die Apotheke gegenüber ist menschenleer. Handwerksbetriebe machen zu, die Kinder wollen nicht bleiben oder gehen, weil sie sich nicht vergrößern können. Größere Gewerbeflächen und Neubaugebiete kann Bürgermeister Schreck nicht ausweisen. Der Gemeinde gehört kaum Grund und die Flächen, die es gibt, sind im Besitz zu vieler Eigentümer. "Mainzer Erbrecht", sagt Walter Schreck. Fast spuckt er die Worte aus. Einer sperre sich immer. In Churmainz war es einst üblich, Besitz aufzuteilen, damit sich alle Kinder als Kleinbauern versorgen konnten.

Der Bürgermeister deutet im Ortskern auf ein marodes Gebäude, in dem nur Spatzen hinter Spitzengardinen hausen. Er will das handtuchschmale Glasmacherhaus abreißen, Luft schaffen und Blickachsen, einen Dorfplatz. Der Historiker protestiert. 20 Jahre lang leitete Christian Schreck den historischen Verein des Dorfes, gestaltete das Heimatmuseum. Er möchte bewahren, was von der Geschichte übrig ist. Viel ist es nicht: Zwei Häuser gibt es noch und dort, wo einst die Glasöfen brannten, steht seit 150 Jahren die Kirche.

Wir bedanken uns bei Christian Schreck aus Weibersbrunn für den Tipp.

© SZ vom 10.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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