Asyldebatte:Die CDU ist so unberechenbar wie der Flüchtlingsstrom

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Diskussion im Bundestag: Finanzminister Schäuble und Kanzlerin Merkel (Foto: dpa)
  • Jahrelang hieß es, Angela Merkel habe die Union fest im Griff. Doch in der Flüchtlingskrise entgleitet ihr die Macht.

Von Stefan Braun und Robert Roßmann, Berlin

Im politischen Berlin gibt es viele, die auch mal ohne Bedacht losplaudern. Wolfgang Schäuble gehört dazu sicher nicht. Der Mann sitzt seit 1972 im Bundestag, die Amerikaner mit ihrem Faible für Statistiken preisen ihn gern als "longest-serving member of the German parliament".

In der Geschichte der Bundesrepublik saß niemand länger im Bundestag als der Finanzminister. So jemand weiß, was er mit ein, zwei Sätzen anrichten kann. Man sollte deshalb davon ausgehen, dass Schäuble wusste, was er mit seiner Rede auslösen würde.

Eigentlich sollte der Minister nur den Festvortrag zum zehnjährigen Bestehen des Centrums für Europäische Politik halten. Doch Schäuble nutzte die Gelegenheit, um sich erneut und besonders deutlich vom Kurs der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise abzusetzen. Er verglich die Flüchtlinge mit einer "Lawine" - also mit einer Naturkatastrophe, die alles unter sich begraben kann. Das alleine war schon ein Angriff auf die Wir-schaffen-das-Kanzlerin.

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Doch dann schob Schäuble einen Satz hinterher, der noch giftiger wirkte. "Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein etwas unvorsichtiger Skifahrer an den Hang geht", sagte Schäuble. Und er fügte hinzu, auch er wisse nicht, ob die Lawine schon im Tal sei oder noch im oberen Drittel des Hangs stecke.

Mit anderen Worten: Das Schlimmste könnte womöglich erst noch kommen. Damit hat Schäuble ein neues Bild geschaffen, eines, das sich sehr gefährlich im Bewusstsein der Menschen einprägen könnte: das Bild von Angela Merkel, der unvorsichtigen Politikerin, die leichtfertig etwas losgetreten habe, das in einer wahren Katastrophe enden könnte.

Chuzpe gegenüber der Kanzlerin

Schäubles Auftritt ist so gesehen der vorläufige Höhepunkt einer Phase des Missvergnügens, in der die Kanzlerin gerade erlebt, wie ihre Macht bröckelt. Erst musste sie erleben, wie der Bundesinnenminister im Alleingang den Familiennachzug für die syrischen Flüchtlinge einschränken wollte. Dann musste sie lernen, dass die harte Kritik an Thomas de Maizière starke Solidarität nicht für sie, sondern für ihn auslöste.

Und dann erfuhr Merkel quasi aus den Medien, dass de Maizière für Syrer auch das Dublin-System wieder einführte. Vor Kurzem hätte man eine derartige Chuzpe gegenüber der Kanzlerin noch nicht für möglich gehalten.

Dabei wäre es falsch zu denken, dass das, was gerade um die Kanzlerin herum passiert, bereits nach einem festen Plan geschieht, gar einer festen strategischen Absprache ihrer Gegner entspringt. Mit de Maizières Beschlüssen und Schäubles Auftritten ist aber etwas aufgebrochen, was sich seit Wochen anbahnte.

Da suchte sich eine Stimmung ein Ventil, um die eigene Unzufriedenheit über den Flüchtlingskurs des Kanzleramts loszuwerden. Überraschend kam das nicht mehr wirklich; offen war nur, wo und wie und durch wen es sich seinen Weg suchen würde.

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Während Merkel strikt an ihrer Botschaft festhält, man könne bei der derzeitigen Lage im Nahen Osten und auf der Balkanroute keine Obergrenzen nennen, änderte sich um sie herum Schritt für Schritt die Stimmung. Beinahe egal, in welches Ministerium man in den vergangenen Wochen hineinhörte, vor allem in den großen, wichtigen Häusern machte sich das Gefühl breit, ohne eine Botschaft der Begrenzung werde man das nicht mehr stemmen.

Dabei vermischte sich eine grundsätzliche Skepsis wie im Innenministerium mit dem wachsenden Eindruck auch Wohlwollender, dass man beispielsweise im Rahmen einer großzügigen Kontingentlösung durchaus eine ähnliche Botschaft wie Merkel hätte ausstrahlen können, ohne jedoch mit diesem offenen Ende leben zu müssen. Offen deshalb, weil auf Basis der Merkel'schen Linie niemand sagen kann, wie viele Flüchtlinge noch kommen werden. Die Kanzlerin selbst konnte und könnte weiter mit dieser Linie leben. Immer mehr in ihrer Partei wollen das aber nicht mehr.

Für Merkel besonders kompliziert ist dabei, dass es einer ihrer bislang treuesten Knappen ist, der sich nun querstellt. Ausgerechnet de Maizière, ihr früherer Kanzleramtsminister, fällt Beschlüsse, die zwar leise daherkommen, aber genau das liefern, was die Kanzlerin ablehnt: die Botschaft, dass es nicht mehr so weitergehen könne wie bisher mit der Willkommenskultur.

Ein neuer, schlechterer Status für syrische Flüchtlinge, dazu eine Beschneidung des Familiennachzugs und dann auch noch die Rückkehr zum Dublin-System mit möglicher Abschiebung in andere EU-Staaten - all das hat nicht sofort Folgen, aber ist doch das dramatische Signal: Es gibt Begrenzungen.

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Und was die Sache für Merkel nicht besser macht: Nach dem Chaos um de Maizières ersten Vorstoß Ende vergangener Woche hätte sie bis Sonntag noch die Möglichkeit gehabt, de Maizière leise einzufangen oder spektakulär zu entlassen.

Merkel zeigt Instinkt für die Lage

Doch mit dem Auftritt ihres Kanzleramtsministers Peter Altmaier, der de Maizière am Sonntag noch einmal öffentlich in den Senkel stellte, löste die Regierungszentrale in der Union eine Solidaritätswelle für den Minister aus, die einen Rauswurf de Maizières fürs Erste unmöglich machen dürfte. Wie in der Wahlnacht 2005, als Gerhard Schröders Attacken Merkel das politische Überleben garantiert hatten, war es nun Merkels eigener Kanzleramtsminister, der mit seinem Angriff de Maizière die Zukunft gesichert hat.

Immerhin hat Merkel am vergangenen Wochenende Instinkt für die neuen Verhältnisse bewiesen. Noch am Sonntag sprach sie direkt mit ihrem Innenminister. Zum einen wollte sie sich seiner Loyalität versichern; zum anderen klärten die beiden schon da, dass auch Merkel am nächsten Morgen in Präsidium und Vorstand der CDU seinen Vorschlag im Grundsatz mittragen werde. Man könnte auch sagen: Sie drehte bei, bevor es am nächsten Morgen zum offenen Konflikt kommen konnte.

Vorbei ist damit für Merkel aber noch nichts. Auch das hat sie verstanden. Am Freitagabend wird sie ins ZDF gehen, um sich unter der Überschrift "Was nun?" den Fragen zu stellen. Gern macht die Kanzlerin derlei nicht. Ihr Auftritt zeigt deshalb, in welcher Lage sie sich auch selbst wähnt: Sie muss sich mächtiger Kritik erwehren - und sich darum dringend erklären.

© SZ vom 13.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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