Geretsried:Gerüchte über Flüchtlinge aus der Welt schaffen

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Alle haben ein Handy, sie nehmen uns die Wohnungen weg: Der Geretsrieder Bürgermeister Michael Müller (CSU) notiert die übelsten Gerüchte. (Foto: Felicitas Amler)

Sexuelle Übergriffe, geschenkte Handys und Lederjacken: Beim Integrationsforum wird mit Vorurteilen aufgeräumt

Von Felicitas Amler, Geretsried

Vorurteile gegen Flüchtlinge sind alltäglich und allgegenwärtig. Beim 6. Geretsrieder Integrationsforum am Montagabend im Saal der Karl-Lederer-Schule musste denn auch in den Workshops zu diesem Aspekt des Themas "Chancen und Herausforderungen der Migration" nicht lang nach Beispielen gesucht werden. Eine Teilnehmerin berichtete mit fragendem Unterton, allenthalben sei zu hören, im Geretsrieder Stadtwald begingen Asylsuchende sexuelle Übergriffe an Frauen. Und - zweiter Teil der Kolportage - dies werde von der Stadt und der Polizei gezielt verdeckt, damit keine Unruhe aufkomme.

Workshop-Leiterin Sonja Frank, Integrationsreferentin des Stadtrats, blieb gefasst. Das sei wie immer, erwiderte sie: Negative Behauptungen über Flüchtlinge würden ihr nie direkt gesagt. "Mir erzählt immer jemand, er hat's irgendwo gehört oder ,das schwirrt so rum'." Sonja Frank hat auf Gerüchte drei Antworten. Erstens: Wenn du weißt, dass etwas Schlimmes geschehen ist, geh damit zur Polizei. Zweitens: Weder die Stadt noch die Polizei haben ein Interesse daran, derartige Straftaten zu verschleiern. Drittens: Genau hinschauen.

Um dies zu erläutern, berichtete Frank von den ersten Flüchtlingen in Geretsried, einer Gruppe junger Afghanen. Damals sei ihr aufgefallen, dass rund um deren Unterkunft Eltern ihre Kinder nicht mehr auf die Straße ließen. Es stellte sich heraus, dass die Afghanen die Kinder begrüßend anzufassen pflegten, was die Deutschen als unsittliche Annäherung wahrnahmen. Auf Nachfrage bei den jungen Männern erfuhr Sonja Frank: In deren Heimat sei es üblich, sogar die Straßenseite zu wechseln, um Kinder zu berühren - ein freundliches Signal für deren Eltern, wie schön ihre Kinder seien.

Das Integrationsforum war mit drei Impulsreferaten eröffnet worden, anschließend diskutierten die 72 Teilnehmer in Workshops zu den drei Themen; die Ergebnisse wurden im Plenum vorgetragen. Sie lassen sich zusammenfassen: Gegen Vorurteile helfen Fakten. Sprache, gegenseitiger Respekt und die Schaffung einer neuen Infrastruktur sind die Herausforderungen; kulturelle Vielfalt und Toleranz die Chancen der Migration.

Thomas Bigl, Sozialamtsleiter im Tölzer Landratsamt, gab in seinem Referat einen Überblick über Zahlen und Daten: Aktuell 1478 Flüchtlinge im Landkreis, davon 298 im Notfallplan, vielleicht bis Ende kommenden Jahres 3000 weitere Asylsuchende, offizielle Prognosen aus Berlin gibt es nicht mehr. Alleinstehende Asylsuchende warten acht, neun Monate, bis sie ihren Antrag stellen dürfen, bei Eritreern werden das schon mal 20 Monate. Er sprach ebenfalls über Vorurteile. Immer wieder, und nur aus Bad Tölz, noch nie aus Geretsried, komme ihm zu Ohren: Flüchtlinge brauchten nur ins Geschäft zu gehen, ein 800-Euro-Handy auszusuchen oder eine teure Lederjacke, und das Sozialamt zahle das dann. Bigl zeigte sich empört: "Was reizt Menschen daran, diese Geschichte geradezu mit Wollust weiterzuerzählen?", fragte er. Eine Geschichte, deren Irrealität man erkennen müsste, so Bigl, "wenn man ein bissl nachdenken würde". Und noch einmal stellte er eine Frage: "Was motiviert die Leut', so einen Dreck zu erzählen?"

Bigl bekannte, allein mit den Potenzialen des Landratsamts wäre Integration nicht zu leisten, sie sei nur möglich, weil bis zu 800 Ehrenamtliche im ganzen Landkreis mit dazubeitrügen. Er erinnerte daran, dass man in seiner Behörde vor gut einem Jahr fest davon überzeugt war, die damals erwartete Verdoppelung der Flüchtlingszahl nicht zu bewältigen. Tatsächlich habe sich die Anzahl versechsfacht, und man schaffe das.

© SZ vom 18.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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