Was ist deutsch?:"Die Flüchtlinge werden zur Projektionsfläche der Krise"

Was ist deutsch?: Angst vor der Verburkaisierung des Abendlandes: Plakat bei einer Pegida-Demonstration in Dresden.

Angst vor der Verburkaisierung des Abendlandes: Plakat bei einer Pegida-Demonstration in Dresden.

(Foto: Robert Michael/AFP)

Warum Pegida im Osten aus der Flüchtlingsdebatte Kapital schlagen kann: Ein Gespräch mit David Begrich von der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Magdeburg.

Von Alex Rühle

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neue Menschen ins Land kommen - das ist schon fast ein geflügelter Satz. Dann aber wird es kompliziert: Was ist deutsch? Wie erleben die Deutschen ihr Land? Welche Veränderungen würden sie hinnehmen, welche nicht? In dieser Serie kommen Wissenschaftler, Literaten und Praktiker aus Ost und West zu Wort. Heute beschreibt David Begrich von der Magdeburger Arbeitsstelle Rechtsextremismus des Vereins Miteinander, warum Pegida aus der Flüchtlingsdebatte Kapital schlagen kann.

SZ: Herr Begrich, was ist für Sie deutsch?

David Begrich: Der preußische Ikarus. Immer noch.

"Preußischer Ikarus" hieß Wolf Biermanns Ballade über den preußischen Reichsadler, es war ein Lied über die deutsch-deutsche Zerrissenheit, als das Land noch geteilt war. Warum gerade der Ikarus?

Weil die Geschichte des 20. Jahrhunderts nachwirkt. Wir sind noch nicht fertig mit der Geschichte der deutschen Teilung und ihren Folgen. Das können wir doch gerade sehen. Es gibt zwei politische Kulturen in Ost und West, die sich nur schwer miteinander verständigen können.

Die Redner bei den Pegida-Demonstrationen in Dresden scheinen davon überzeugt zu sein, dass dieser deutsche Staat bald Geschichte sein wird. Wie kommt das?

Es gibt eine biografische Erfahrung oder die Erzählung oder Imagination einer biografischen Erfahrung im Osten, die besagt: "Ich erkenne die Krisensymptome. Ich war '89 schon auf der Straße. Die Situation ist vergleichbar."

Aber unser momentanes System steht doch nicht vor dem Kollaps.

Die Debatte um Flüchtlinge, den Islam und den Kontrollverlust der Politik schlägt in der Wahrnehmung bestimmter ostdeutscher Milieus ungefiltert auf die Frage nach der Legitimität des politischen Systems durch. Die Politik wird als handlungsohnmächtig wahrgenommen. Diese Handlungsohnmacht wird von den Demonstranten in Dresden und anderswo mit der Agonie-Phase der DDR gleichgesetzt. Sie spüren, dass sich Politiker in Phrasen flüchten. Dass sie ihre eigene Ratlosigkeit in der Flüchtlingsdebatte wegreden.

Pegida-Chef Lutz Bachmann und seine Mitstreiter reden oft, als hätten sie ein direktes Mandat vom Volk, und das wird jetzt bitte in Berlin umgesetzt. Woraus speist sich dieses Selbstbewusstsein?

Ja, Pegida und ähnliche Gruppen behaupten ein imperatives Mandat des Durchgriffs der Straße oder des Volkes auf die Institutionen der repräsentativen Demokratie. So ist zu verstehen, wenn ihre Anhänger sagen, sie gingen so lange auf die Straße, bis "die da oben machen, was wir wollen". Darin spiegelt sich die Erfahrung, dass sie die DDR-Diktatur eben auf diese Weise beseitigt haben. Dass hier ein Missverständnis hinsichtlich der heutigen Architektur von Macht und Herrschaft, aber auch der Vermittlung von Repräsentation und nicht zuletzt eine gnadenlose Selbstüberschätzung vorliegt, steht auf einem anderen Blatt. Andererseits kann man Pegida als Brennspiegel ostdeutschen Krisenbewusstseins begreifen. Die Politik fordert von den Menschen im Angesicht des Zustroms von Flüchtlingen Veränderungsbereitschaft und Flexibilität. Sie vergisst, dass sich die Menschen im Osten seit 25 Jahren veränderungsbereiter gezeigt haben als manche Westdeutsche und nun sagen: Ich will so bleiben, wie ich bin.

Was ist deutsch?: Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

Deutschland wird sich verändern, wenn Hunderttausende neu hinzukommen. Aber was ist das - deutsch? Darüber debattieren Deutsche aus Ost und West, Wissenschaft und Praxis in dieser Serie. Heute: der Soziologe Stephan Lessenich.

Der Politikwissenschaftler Hans Vorländer schrieb kürzlich, im Zuge der friedlichen Revolution von 1989 seien zum Teil stark vereinfachende Vorstellungen demokratischer Entscheidungsfindungsprozesse entstanden. Wie meinte er das?

Ich würde es anders formulieren. Es gibt im Osten eine weit zurückreichende Tradition der Erwartung, es sei Aufgabe des Staates, in allen Lebensbereichen für Ordnung und Wohlergehen zu sorgen. Wenn in der DDR in einer Neubauwohnung das warme Wasser ausblieb, wandte man sich im Zweifel mit einer Eingabe an den imaginären guten König, den Genossen Generalsekretär, Erich Honecker. Und siehe da: Das warme Wasser kehrte zurück. Jedenfalls manchmal. Die Erwartungshaltung an die Steuerungskompetenz, aber auch an die Steuerungsfähigkeit des Staates ist immens. Die Enttäuschung darüber, dass ein Bundestagsabgeordneter keinen Einfluss darauf nehmen kann, ob bei mir um die Ecke eine Apotheke bestehen bleibt, ebenso.

Sie reden täglich mit den Leuten. Wie reagieren die Menschen auf einen Galgen für Bundeskanzlerin Angela Merkel oder auf den KZ-Satz des Schriftstellers Akif Pirinçci bei Pediga-Demonstrationen?

Der KZ-Vergleich wird abgelehnt. Bei der Geschichte mit dem Galgen sagen viele: Das ist von den Medien aufgebauscht. Überhaupt - die Medien. Der Terminus der "Lügenpresse" hat einen komplexen Hintergrund. In der Berichterstattung etwa über den Ukraine-Konflikt hatten viele, vor allem ältere Leute mit DDR-Medienerfahrung, den Eindruck, sie sehen nicht die "Tagesschau", sondern die "Aktuelle Kamera". Unabhängig von der Frage, ob die Berichterstattung zur Ukraine ausgewogen war oder nicht. Hinter dem Begriff der "Lügenpresse" steht die irrige Annahme, in der Zeitung habe "die Wahrheit" zu stehen. Umso größer ist die Enttäuschung, wenn sich herausstellt, dass die Wahrheit komplex ist oder im Auge des Betrachters liegt.

Ostdeutsche Rassismusgeschichte

Wie viel Prozent der Menschen haben sich vollständig abgewandt von unserer konsensual organisierten demokratischen Gesellschaft?

Tja, was nehmen Sie als Indikator, um das zu messen? Die Wahlbeteiligung? Dann wäre der Prozentsatz hoch. Wir kennen aber die sehr differenzierten Motive von Leuten, die nicht zur Wahl gehen. Pauschal postdemokratische Repräsentationsdefizite zum Grund zu erklären, greift also zu kurz. Wir haben, wie in anderen europäischen Staaten auch, ein Potenzial der Zustimmungsbereitschaft zu rechtspopulistischen Politikkonzepten, das vielleicht bei 15 oder 20 Prozent liegt. Im Osten ist es höher als im Westen.

Gibt es einen spezifisch ostdeutschen Rassismus?

Es gibt eine spezifische ostdeutsche Geschichte mit Rassismus. Und es gibt in Ostdeutschland weitreichende Vorstellungen nicht nur von sozialer Homogenität im Sinne von sozialer Gleichheit, sondern auch solche, die auf kulturelle, lebensweltliche Homogenität der Lebensart zielen.

Was hat es mit der ostdeutschen Rassismusgeschichte auf sich?

Die Geschichte der migrantischen Vertragsarbeiter in der DDR ist die Geschichte gesellschaftlicher Exklusion. Die lebten isoliert, mit Verboten belegt, und ohne echte Partizipation am Alltag in der DDR. Als die DDR unterging und der Kampf um die restlichen Arbeitsplätze begann, wurde Kubanern und Vietnamesen sofort gekündigt. Es gibt im Osten nur Inseln der Interkultur. Aber es gibt Narrative und Gerüchte und Medienberichte über die "multikriminellen" Zustände in westdeutschen Großstädten. Das Gerücht, in Berlin werde es auf Druck der Muslime keine Weihnachtsmärkte mehr geben, ist in seiner Wirkungsmacht für die Mobilisierung von Ressentiments nicht zu unterschätzen.

SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte zu Beginn dieses Jahres noch, man müsse mit den Pegida-Demonstranten reden. Gebracht hat das wenig. Lassen sich diese Nicht-Integrierten überhaupt zurückgewinnen für das demokratische Projekt , oder haben sie alle Brücken abgebrochen?

Anders. Das Gesprächsangebot der Politik an das Pegida-Umfeld hätte die Ansage einschließen müssen, welche Werte und Inhalte nicht verhandelbar sind. Für mich wäre das beispielsweise ganz klar der menschenrechtliche Universalismus. Stattdessen aber schwankten Politiker zwischen Affirmation und moralischer Diskreditierung. In die konkrete Debatte haben sich nach meiner Wahrnehmung nur wenige begeben. Dass Pegida christliche Werte in einem Landstrich anruft, in dem ganze Generationen vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben, also nicht einmal mehr bewusst atheistisch sind, ist paradox. Nirgendwo ist Europa so entchristianisiert wie in Ostdeutschland.

Der Philosoph Peter Sloterdijk schrieb vor einigen Jahren, die Alten würden auf ein Zornkonto einzahlen, von dem die Jungen dann in Form ihrer Gewalttaten abheben. Gibt es diese von Generation zu Generation weitergereichte Frustrations- und Aggressionskette immer noch?

Es gibt in Ostdeutschland die Erfahrung der gesellschaftlichen Transformationsphase, in der viele Konflikte im Angesicht des Versagens von Eltern, Schule, Staat und Jugendarbeit mit Gewalt gelöst wurden. Es gab rassistische Massengewalt in den Neunzigerjahren im Osten. In Heidenau oder Freital könnte man die Spuren der Generation Hoyerswerda lesen, wenn man wollte.

Dann wäre die Flüchtlingsdebatte nur eine Art mentaler Treibsatz?

Die Flüchtlinge werden zur Projektionsfläche des Krisenbewusstseins. Dessen Kern liegt darin, dass der Kapitalismus nach der Wende das Versprechen gab: Wenn du fleißig und tüchtig bist, kannst du es schaffen. Die Wahrheit ist: Es gibt auch im Falle von Fleiß und Tugendhaftigkeit keine Garantie mehr auf Wohlergehen.

Was hat sich von all dem nach den Anschlägen in Paris geändert?

"Paris" bestärkt den antimuslimischen Rassismus und hat also einen Rückkopplungseffekt in der politischen Rechten.

Wie oft werden Sie selbst bedroht?

Manchmal.

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