Medizin:Schaden Ärztestreiks den Patienten?

Wissenschaftler haben untersucht, wie es Kranken ergeht, wenn Mediziner in den Ausstand treten.

Von Werner Bartens

Wer streikt, lässt seine Muskeln spielen und will zeigen, wie unersetzlich er ist. Im Bahn- und Flugverkehr und bei der Müllabfuhr wird schnell ersichtlich, wie sehr die Gesellschaft auf die täglichen Dienstleistungen angewiesen ist. Auf eine Berufsgruppe, die als unentbehrlich gilt, scheinen die Menschen hingegen zeitweise und vor allem teilweise verzichten zu können: Treten Ärzte in den Ausstand, sterben einer Analyse von Harvard-Wissenschaftlern zufolge auch nicht mehr Patienten als sonst, mancherorts gar weniger. Patienten können also beruhigt sein, wenn Mediziner mit einer Streikwelle drohen. Ärzte sollten es sich zweimal überlegen, ob es ihrem Ansehen guttut, die Arbeit niederzulegen.

Im British Medical Journal zeigt ein Team um David Metcalfe, wie sich Ärztestreiks in wohlhabenden Ländern auf die Versorgung auswirken (Bd. 351, S. h6231, 2015). "Patienten kommen nicht ernsthaft zu Schaden, wenn Ärzte die Arbeit niederlegen", sagt der Mediziner. "Immer vorausgesetzt, eine Notfallversorgung bleibt gewährleistet."

Dies ist offenbar meist der Fall. So starben 1976 im Großraum Los Angeles sogar weniger Menschen als sonst, als fast die Hälfte der Ärzte für fünf Wochen die Arbeit niederlegte. 1983 streikten in Jerusalem 73 Prozent der Ärzte im Krankenhaus, weil sie mit ihrer Bezahlung unzufrieden waren. Während des viermonatigen Ausstands waren die Notaufnahmen so dünn besetzt wie sonst am Wochenende. Zusätzlich boten nicht streikende Ärzte in Zelten vor den Kliniken eine Versorgung für ambulante Patienten an. Im Jahr 2000 gab es eine ähnliche Aktion in Jerusalem, sodass während drei Monaten alle elektiven Eingriffe wie Operationen der Mandeln oder eines Leistenbruchs abgesagt wurden. In diesem Zeitraum gab es weniger Beerdigungen in der Stadt als sonst.

In Spanien streikten 1999 junge Assistenzärzte neun Tage lang. Ihre Arbeit in den Ambulanzen wurde währenddessen von erfahreneren Ärzten übernommen, sodass die negativen Folgen für Patienten überschaubar blieben und auch hier kein Anstieg der Todeszahlen zu verzeichnen war. Ähnliches gilt für einen Streik in Großbritannien 2012 und Arbeitsniederlegungen der Ärzte in Kroatien 2003. Die einzige Ausnahme bildet Südafrika, wo im Jahre 2010 tatsächlich alle Ärzte einer Provinz für 20 Tage in den Streik gingen und in der Folge mehr Menschen starben als sonst.

Aus diesen Ergebnissen lassen sich etliche Lehren ziehen: Da fast immer eine Notfallversorgung gewährleistet ist und nur selten alle Ärzte einer Region streiken, sind bedrohliche Folgen für Patienten im Streikfall selten. Zudem sind längst nicht alle Beschwerden, die Patienten für einen Notfall halten, akut zu behandeln. Die Medizin in wohlhabenden Ländern besteht hauptsächlich in der Betreuung von chronisch Kranken und erfordert nur selten eine sofortige Intervention.

Allerdings muss die Medizin zugeben, dass Überversorgung dazu beiträgt, dass Menschen zu Schaden kommen. Entlastend für Ärzte ist hingegen: Wer einen Streik aus politischen Gründen befürwortet, es aber für unvereinbar mit dem Arztberuf hält, die Arbeit niederzulegen, kann sich getrost sagen: Die negativen Folgen für Patienten halten sich offenbar in Grenzen.

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