Brasilien:Das Ende der Zwei-Klassen-Justiz

A flag of Brazil's state-run Petrobras oil company is pictured at a gas station in Mariana

Eine Flagge des halbstaatlichen Erdölkonzerns Petrobras: Das Unternehmen steht im Mittelpunkt zahlreicher Bestechungsversuche, die nun aufgedeckt werden.

(Foto: Ricardo Moraes/Reuters)

Die wichtigsten Banker und Unternehmer Brasiliens sitzen wegen dringenden Korruptionsverdacht in Haft.

Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro

"Um in Brasilien verhaftet zu werden, muss man sehr arm sein und einen sehr schlechten Anwalt haben." Der Satz stammt von einem, der es wissen muss, von Luís Roberto Barroso, einem der Richter am Obersten Gerichtshof in Brasília. Er brachte damit eine historische Wahrheit auf den Punkt: Das juristische System in Brasilien ist selektiv. Die Armen und Wehrlosen, die Kleinverbrecher werden weggesperrt oder direkt erschossen, die Reichen und Mächtigen machen, was sie wollen. Barroso ging sogar soweit, von einem "Kastensystem" zu sprechen.

In den vergangenen Tagen wurden diese Thesen schwer erschüttert - und zwar just von jenem Obersten Gerichtshof, dem Barroso angehört. Auf dessen Anweisung wurde André Esteves, 46, verhaftet. Der ist weder arm, noch dürfte er schlechte Anwälte haben. Als Eigentümer von BTG Pactual gilt Esteves als der führende Investmentbanker Lateinamerikas. Ein Goldjunge, der mit Mitte 30 zum jüngsten Milliardär Brasiliens aufgestiegen war. Und jetzt vom Himmel stürzt. Die Polizei nahm ihn direkt aus seiner Luxuswohnung am Ipanema-Strand in Rio de Janeiro mit.

Zur selben Zeit wurde in einem Hotel in Brasília der Politiker Delcídio do Amaral, 60, abgeführt. Auch kein kleiner Fisch. Im Gegenteil. Amaral ist der Fraktionschef der regierenden Arbeiterpartei (PT) von Präsidentin Dilma Rousseff. Laut der Zeitung O Globo ist es das erste Mal in der Geschichte Brasiliens, dass ein amtierender Senator hinter Gitter muss. Die Beweise gegen ihn sind so erdrückend, dass der Senat in einem öffentlichen Votum noch rasch seine Immunität aufhob.

Ein ranghoher Politiker soll versucht haben, den Kronzeugen zum Schweigen zu bringen

Esteves und Amaral wird zur Last gelegt, die Ermittlungen im Korruptionsskandal um den halbstaatlichen Erdölkonzern Petrobras behindert zu haben. Sie sollen versucht haben, den ehemaligen Petrobras-Direktor Nestor Cerveró mit Schmiergeldern zum Schweigen zu bringen. Der ist inzwischen einer der wichtigsten Kronzeugen der staatsanwaltlichen Ermittlungen unter dem Titel Operation Lava-Jato ("Autowäsche"). Laut Erkenntnissen der Staatsanwaltschaft haben Esteves und Amaral der Familie Cerveró vier Millionen Reais (etwa eine Million Euro) sowie eine fortlaufende Monatsprämie von 50 000 Reais angeboten - für den Fall, dass ihre Namen nicht in den Aussagen von Nestor Cerveró auftauchen. Dessen Sohn Bernardo hat die Bestechungsversuche aber heimlich aufgezeichnet und den Ermittlern übergeben.

Die Aufnahmen wurden von mehreren brasilianischen Medien in voller Schauerlichkeit veröffentlicht. An einer Stelle ist zu hören, wie der PT-Fraktionschef Amaral einen Fluchtplan für Nestor Cerveró entwirft, der seit Januar in Untersuchungshaft sitzt. Es geht darum, den Kronzeugen über Paraguay nach Spanien ausfliegen zu lassen. Amaral verspricht, in höchsten Kreisen von Politik und Justiz auf Cerveros Freilassung hinzuwirken. Der Senator trägt das mit einer Selbstverständlichkeit vor, die erahnen lässt: So oder so ähnlich lief das offenbar immer ab in Brasiliens juristischem Kastenwesen. Bis vor Kurzem.

Die Operation Lava-Jato läuft seit anderthalb Jahren und hat das zweifellos größte Korruptionsnetzwerk Brasiliens ans Licht gebracht. Es geht um ein hochkomplexes und milliardenschweres Schmiergeldsystem, in dem sich Zulieferer von Petrobras lukrative Aufträge sicherten, während sich Politiker, Manager und Funktionäre fröhlich die Taschen füllten. Ein Verbrechen als Tausend-Teile-Puzzle. Brasilien wird immer korrupter, so stellt sich das auf den ersten Blick dar. Tatsächlich ist es eher so, dass im Zuge von Lava-Jato erstmals ernsthaft ermittelt wird.

Im Sommer wurde bereits Marcelo Odebrecht, der Chef des gleichnamigen Baukonzerns festgenommen. Brasilianische Richter und Staatsanwälte gehen plötzlich gegen die reichsten Banker (André Esteves), die einflussreichsten Politiker (Delcídio do Amaral) und die Chefs der umsatzstärksten Konzerne (Marcelo Odebrecht) vor. Sie alle gehören jener Kaste an, die es immer gewohnt war, sich die Strafverfolger zur Not mit ein wenig Handgeld vom Leib zu halten. Sie alle sitzen jetzt in Haft. Auch in diesem Sinne ist der Fall Petrobras bislang einzigartig.

Für die ohnehin schwer angezählte Präsidentin Dilma Rousseff hat sich die Lage mit der jüngsten Volte von Lava-Jato noch einmal deutlich verkompliziert. Zwar gibt es weiterhin keine Beweise, dass sie persönlich in den Schmiergeldskandal eingeweiht war, der Fraktionschef Amaral gehörte allerdings zum engsten Führungskreis ihrer Partei. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert eine anonyme Quelle aus Rousseffs Stab mit den Worten: "Die Verhaftung hat im Präsidentenpalast eingeschlagen wie eine Atombombe."

Die Korruptionsfälle sind ein Symbol der Krise - und verschärfen sie nun noch

Die Präsidentin kämpft um ihr politisches Überleben. Was am ehesten für sie spricht, ist die Tatsache, dass ihre einflussreichsten Widersacher ebenfalls im Fadenkreuz der Lava-Jato-Ermittler stehen. Allen voran der Parlamentspräsident Eduardo Cunha. Der Polit-Betrieb in Brasília ist durch dieses Gleichgewicht des Schreckens gelähmt. Ein dringend notwendiges Sparpaket der Präsidentin, um den Haushalt zu konsolidieren, wird im Kongress seit Monaten verschleppt. Das vor ein paar Jahren noch weltweit beneidete Wirtschaftswunderland Brasilien hat sich auch aufgrund dieser politischen Puppentheaters in die Rezession manövriert.

Es liegt auf der Hand, dass sich das Investitionsklima in Brasilien nicht dadurch verbessert, dass der wichtigste Bauunternehmer und der wichtigste Investmentbanker des Landes wegen dringendem Korruptionsverdacht derzeit im Gefängnis sitzen. Das ist nicht nur ein Symbol, sondern auch ein Katalysator der Krise. An der Börse in São Paulo sackte der Aktienkurs von BTG Pactual um mehr als 20 Prozent ab. Auf der anderen Seite ist es aber auch ein Zeichen der Hoffnung und des Fortschrittes. Es zeigt: Man kann inzwischen sehr reich sein in Brasilien und trotzdem in sehr große Schwierigkeiten und recht kleine Zellen geraten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: