Flüchtlinge:Russland - wo Asylrecht einem Glücksspiel gleicht

Flüchtlinge: Die Organisation von Svetlana Gannuschkina kümmert sich um Flüchtlinge in Russland.

Die Organisation von Svetlana Gannuschkina kümmert sich um Flüchtlinge in Russland.

(Foto: Lothar Hennig)

Assad unterstützen, geflüchteten Syrern die Hilfe verweigern: Das Schicksal einer Familie zeigt Russlands widersprüchliche Flüchtlingspolitik.

Von Antonie Rietzschel, Moskau

Gulstan ist erleichtert: "Die Kinder können endlich an der frischen Luft spielen", sagt sie. Die Ausländerbehörde hat sie und ihre Familie in einem ehemaligen Ferienlager zwischen Sankt Petersburg und Moskau untergebracht. Gulstans Ehemann Hassan ist Kurde und stammt aus Syrien. Die Familie hat Asyl beantragt und wartet auf das Ergebnis des Verfahrens. Die Telefonverbindung ist schlecht, ohne Erlaubnis dürfen sie nicht zum Supermarkt laufen. "Aber es ist immerhin besser als das, was wir davor durchmachen mussten."

Zuletzt lebten sie in der Stadt Erbil im Irak. Aus Angst vor der Terrormiliz Islamischer Staat beschließt die Familie, nach Russland zu fliehen, wo Gulstans Schwester lebt. Über seinen Bruder, der in einer kurdischen Enklave in Syrien lebt, besorgt Hassan der Familie syrische Pässe. Im russischen Konsulat erhalten sie Touristenvisa. Anfang September landen sie am Flughafen Moskau-Scheremetjewo.

Mehr als zwei Monate in der Transitzone des Flughafens

Nach Berechnungen der Flüchtlingsorganisation Bürgerlicher Beistand befinden sich derzeit ungefähr 10 000 geflüchtete Syrer in Russland. Die meisten reisen mit einem gültigen Visum ein - russische Konsulate machen damit gute Geschäfte. Hassan hat nach eigenen Angaben umgerechnet 244 Euro pro Person gezahlt. Am Flughafen Moskau-Scheremetjewo verweigern die Grenzbeamten die Einreise, trotz gültiger Visa. Angeblich sind die Pässe gefälscht.

Hassan und Gulstan wird illegaler Grenzübertritt vorgeworfen, ihr Asylgesuch ignoriert. Bis zum Prozess sollen sie ins Gefängnis, ihre Kinder in ein Heim. Nur durch die Zahlung von jeweils umgerechnet 715 Euro können sie dem entgehen. Das Geld muss ihre Schwester aufbringen.

Mehr als zwei Monate sitzt die Familie in der Transitzone des Flughafens fest. Der ehemalige Raucherbereich wird ihr Zuhause. Russische und internationale Medien greifen die Geschichte auf. Durchreisende schenken ihnen warme Kleidung. Dank Geldspenden können sie sich Essen kaufen.

Hassan, Gulstan und die vier Kinder werden zum Präzedenzfall für eine widersprüchliche Syrien-Politik: Der Kreml unterstützt die Armee von Machthaber Baschar al-Assad. Russische Kampfflugzeuge bombardieren Stellungen des Islamischen Staats - gleichzeitig tut die russische Regierung nichts für einen Syrer, der mit seiner Familie vor dem Terror flieht.

"Bitte, schicken Sie uns nicht zurück"

Die Beantragung von Asyl gleicht in Russland einem Glücksspiel: "Keiner kann genau sagen, wie lange die Bearbeitungszeit dauert", sagt der syrische Journalist Muis Aldschadil. "Die Entscheidungen werden völlig willkürlich getroffen", sagt er. Wer genug Geld habe, der könne sich den Flüchtlingsstatus natürlich erkaufen. Bisher wurden lediglich drei Syrer anerkannt. 1060 erhielten einen zeitlich begrenzten Aufenthaltsstatus, der nach einem Jahr neu beantragt werden muss.

Gulstan

Gulstan in Moskau vor Gericht.

(Foto: Antonie Rietzschel)

"Die meisten syrischen Flüchtlinge leben illegal in Russland - entweder warten sie noch auf die Entscheidung der Ausländerbehörde oder wurden abgelehnt", sagt Svetlana Gannuschkina, Vorsitzende von Bürgerlicher Beistand. Die Organisation kümmert sich seit den Neunzigerjahren um Flüchtlinge. Sozialarbeiter helfen beim Ausfüllen von Anträgen, Anwälte bei abgelehnten Asylverfahren. Der Warteraum ist immer überfüllt: "Früher kamen vor allem Tschetschenen - heute sind es Ukrainer und Syrer", sagt Gannuschkina. Dem Staat gilt ihre Organisation als ausländischer Agent.

Darf ein Staat Flüchtlinge für den illegalen Grenzübertritt bestrafen?

Von Gulstan und Hassan hört Svetlana Gannuschkina zum ersten Mal Ende September. Eine Anwältin nimmt sich des Falls an. Sie findet eine Spenderin, die der Familie ein Zimmer in einem Hotel im Transitbereich bezahlt. Bei der syrischen Botschaft holt sie ein Gutachten ein, das die Echtheit der Pässe bestätigt. Sie schaltet das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen ein. Die Bestrafung von Flüchtenden für einen illegalen Grenzübertritt verstoße gegen die Flüchtlingskonventionen, heißt es in einem offiziellen Brief.

Ende November kommt es zum Prozess. Gulstan kann die Verhandlung kaum ertragen. Als sie von ihrem Leben in der Transitzone erzählen soll, weint sie. "Ich musste meine Kinder im Waschbecken auf der Toilette waschen." Hassan fleht: "Bitte, schicken Sie uns nicht zurück." Am Ende verurteilt das Gericht beide wegen illegalen Grenzübertritts zu einer Geldstrafe, die weit unter der Forderung der Staatsanwaltschaft bleibt. Statt umgerechnet 428 Euro müssen Gulstan und Hassan etwa 70 Euro zahlen.

Ein paar Tage später holen Mitarbeiter der Ausländerbehörde die Familie aus dem Transitbereich des Flughafens ab. Gulstan hofft, dass sie bald zu ihrer Schwester darf. "Dort steht alles bereit - wir könnten in der Wohnung leben und ich im Laden mitarbeiten."

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