Ski alpin:Wie ein Michelinmännchen auf Skiern

Audi FIS Alpine Ski World Cup - Men's Downhill

Sicherer ohne Schutz? Andreas Sander und die deutschen Abfahrer verzichten auf die neue Sicherheitsweste, die seit dieser Saison angeboten wird.

(Foto: Alexis Boichard/AFP)
  • Die Skirennfahrer dürfen bei den Rennen am Wochenende in Nordamerika erstmals die neuen Sicherheits-Airbags einsetzen.
  • Ihr Nutzen ist umstritten, weil viele Profis der Technik misstrauen.
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Von Johannes Knuth

Markus Dürager hatte keine Chance. Der 25 Jahre alte Österreicher war am Samstag bei der Abfahrt in Lake Louise auf eine Bodenwelle zugesteuert; als er seinen Fehler bemerkte, lag er bereits in der Luft, rauschte in die Fangnetze wie eine menschliche Kanonenkugel, während ihm die Skier um die Ohren schlugen. Dürager schrie. Es dauerte Stunden, ehe sie ihn in eine Klinik in Calgary geschafft hatten; er hatte sich Schien- und Wadenbein gebrochen, die Ärzte am Unfallort waren nicht befähigt oder per Gesetz nicht bevollmächtigt gewesen, ihn zu versorgen.

"Ein Witz", sagte Hannes Reichelt, Düragers Teamkollege. Es war nicht das erste Mal, dass ein Athlet unter einem sperrigen Sicherheitsprotokoll gelitten hatte. So bildete Düragers Sturz eine saure Pointe des ersten, vollwertigen Weltcup-Wochenendes der Saison. Eigentlich wollten sie in Nordamerika ja in eine neue Ära der Sicherheit aufbrechen. Und jetzt hatte sie Dürager auch daran erinnert, dass dem Skisport noch ein wenig Arbeit bevorsteht.

Der Ski-Weltverband Fis hat vor der Saison ein neues Modell des sogenannten Airbags vorgestellt, eine rund 800 Gramm schwere Weste mit Computersensor und kleinen Gaskanistern. Verliert ein Skirennfahrer die Kontrolle, blasen sich an Nacken, Schulter und Hals kleine Luftpolster auf, binnen Millisekunden, sie sollen beim Aufprall rund 60 Prozent der Energie schlucken. Im vergangenen Winter bot die Firma Dainese, die ein ähnliches Modell im Motorradsport erprobt hatte, den Skifahrern erste Modelle an. Viele lehnten ab. Sie fürchteten, der Airbag könnte sich im falschen Moment entfalten und sie in ein Michelinmännchen auf Skiern verwandeln.

Dainese tüftelte weiter, im Sommer gesellte sich ein zweiter Anbieter dazu. Fahrer und Nationalteams testeten, Florian Winkler, Speed-Trainer der Österreicher, bilanzierte: "Es gab keine Fehlauslösungen. Die Fahrer haben durchwegs Vertrauen bekommen." Markus Waldner, Rennchef der Fis, ergänzte beim Saisonauftakt in Sölden: "Der Airbag ist nicht verpflichtend. Aber wir empfehlen ihn dringend."

Hört man sich in diesen Tagen um, prallt man allerdings auf Skepsis. "So weit ich das verstanden habe, haben die Firmen große Probleme, dass der Airbag im Rennen gefahren wird", sagt Karlheinz Waibel, Bundestrainer Wissenschaft im Deutschen Skiverband (DSV), der den Airbag jahrelang mitentwickelt hat.

Die Airbags wirken sich aerodynamisch nachteilig aus

Waibel berichtet, dass die Ausrüster den Algorithmus zwar verfeinert hätten, der den Befehl zum Aufblasen gibt. Allerdings sei da noch das Problem mit den Luftsäcken. Diese Luftsäcke, die in der Weste verstaut sind, schlagen Falten in den Rennanzug, sobald der Fahrer sich eine Piste hinunterstürzt. Das sei "aerodynamisch nachteilig", habe man im Windkanal ermittelt, so Waibel. Und in einem Sport, in dem am vergangenen Samstag eine Hundertstel zwischen Platz eins (Aksel Lund Svindal) und zwei (Peter Fill) trennte, reagieren Fahrer auf minimale Einbußen allergisch, Sicherheit hin oder her.

Hinzu kommt, dass nur die Österreicher und Kanada mit Dainese kooperieren. Ihre Fahrer dürfen die Airbags umsonst nutzen, was Reichelt am Wochenende auch tat. Die DSV-Piloten müssen den Airbag selbst anschaffen, für rund 1000 Euro. So viel will bislang niemand in seine Sicherheit investieren. Was Waibel versteht. "Die Entwicklung ist absolut zu begrüßen", sagt er, "aber der Rücken ist durch die gängigen Protektoren bereits gut geschützt." Im Gegensatz zu den Knien. Die meisten Skifahrer reißen sich bei Unfällen die Bänder und brechen sich Knochen, weil Skibindungen die Skier zu spät freigeben - oder weil die Knie schlicht ungeschützt sind, wie bei Dürager (der übrigens keinen Airbag trug). "Ich muss als Athlet durch den Airbag vermutlich einen Nachteil bei der Aerodynamik in Kauf nehmen, das Sicherheitsplus aber ist, puh, überschaubar", sagt Waibel.

Die Sicherheit ist ein ständiger Begleiter in einem Sport, in dem sich Athleten mit bis zu 150 Kilometern eine Autobahn aus Eis hinunterstürzen. Die Fis hat die Abfahrten in den vergangenen Jahren sicherer gemacht, sie präparieren die Pisten gleichmäßiger, sie bauen mehr Kurven und Sprünge ein und schärfen die Sinne der Fahrer für die Gefahr, das ist ja manchmal die beste Prävention. Aber mit dem Airbag, glaubt Waibel, investieren sie in eine Baustelle, wobei der Bedarf auf einer anderen viel größer sei, am Knie eben.

Die Kreuzbänder bleiben weiter ungeschützt

Vor zwei Jahren hatte Waibel eine Knieschiene entwickelt, sie sollte vor Kreuzbandrissen schützen, jener Verletzung, die Skifahrer fast so regelmäßig ereilt wie Kindergartenbetreuer ein Schnupfen. Viele deutsche Fahrer trugen sie, auch Veronique Hronek - die sich im Februar bei der WM in Vail aber doch das Knie überdehnte und das Kreuzband riss. Waibel sagt, man könnte jetzt einen Widerstand in die Schiene bauen, der sich progressiv aufbaut und eine Überdehnung stoppt. "Das würde mit dem derzeitigen Reglement aber als Support gewertet werden", es wäre nicht regelkonform. Die Fis hat Waibels Forschungsgruppe also beauftragt, ein Konzept für eine neue Schiene und ein neues Reglement zu entwerfen, Waibel treibt gerade Fördergelder ein. Bis zur Serienreife werden also noch einige Jahre ins Land ziehen. Und einige Bänder reißen.

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